{"id":8590,"date":"2015-06-07T13:49:26","date_gmt":"2015-06-07T11:49:26","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=8590"},"modified":"2015-06-07T21:29:43","modified_gmt":"2015-06-07T19:29:43","slug":"wolfgang-popp-die-verschwundenen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/06\/wolfgang-popp-die-verschwundenen\/","title":{"rendered":"Wolfgang Popp – Die Verschwundenen"},"content":{"rendered":"

Auch wenn wir uns manchmal dessen gar nicht bewusst sind: Jeden Tag verschwinden Menschen aus unserem Fokus, die wir einmal kannten. Manche gut, andere nur fl\u00fcchtig, in ganz verschiedenen Kontexten. Wenn wir manche davon wiedertreffen, ist Vieles ganz anders geworden, haben sich Leben und Priorit\u00e4ten pl\u00f6tzlich verschoben. Was fr\u00fcher einmal passte, kann heute Reibung verursachen. Wolfgang Popp erz\u00e4hlt gekonnt von Wiederbegegnung und Verlusten und strickt dabei ein Netz, das \u00fcber die Grenzen der einzelnen Geschichten hinaus wirkt.<\/strong><\/p>\n

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Keiner tauscht sich so offen aus, bemerkte ich erstaunt, wie zwei Fremde im Schutz ihrer Fremdheit.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Ein Hotelkritiker trifft in Neapel auf einen ehemaligen Lehrer, der damals \u00fcberraschend und pl\u00f6tzlich gek\u00fcndigt hatte und aus der Stadt verschwunden war. Ein sterbender Jugendfreund bittet den anderen nach Jahren der Funkstille seine Notizen in Buchform zu gie\u00dfen und zu ver\u00f6ffentlichen. Nicht Eulen nach Athen, sondern das Foto eines vermeintlich ausgestorbenen K\u00e4uzchens wollen zwei alte Freunde aus Griechenland heraustragen, um ein hohes Preisgeld einzustreichen. Ein Mann entscheidet sich mit seinem Liebhaber f\u00fcr eine Expedition zu den s\u00fcdamerikanischen Pequod und wird \u00fcber die Erforschung ihrer Sprache langsam wahnsinnig. In einer Hafestadt Sri Lankas kommt es schlie\u00dflich zur Jagd auf einen M\u00f6rder. Wolfgang Popps Erz\u00e4hlungen verbindet nicht nur das Element des Verschwindens und Untertauchens, sondern der menschlichen Geheimnisse, die nicht selten unmittelbar mit ihrem Verschwinden verbunden sind. Was k\u00f6nnen Menschen in sich tragen, ohne ihre Umwelt davon in Kenntnis zu setzen? Und welche dieser unbeleuchteten Winkel des Lebens k\u00f6nnen Menschen dazu veranlassen, entweder vom Erdboden zu verschwinden oder gar nach Jahren wieder aufzutauchen?<\/p>\n

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Wir liebten unsere Ideen, solange sie noch k\u00f6rperwarm waren und noch nicht kalt vom Machen-M\u00fcssen. Schaller und ich, wir verehrten die Regisseure der Nouvelle Vague, lie\u00dfen uns die Haare schneiden wie Truffaut und rauchten wie Godard, wollten Filme machen und, bis es soweit war, als Filmkritiker Erfahrungen sammeln.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Felder treibt der nahende Tod zur\u00fcck in die Arme eines alten Freundes. Mit einer Brief nach sieben Jahren Funkstille bittet Felder um einen Gefallen. All seine universit\u00e4ren Notizen, die er bis zuletzt nicht zu einem Thema b\u00fcndeln konnte, obwohl es durch sie hindurch sp\u00fcrbar sei, m\u00f6chte er seinem Freund \u00fcbergeben. In der Plastikt\u00fcte eines Discounters warten tausende handschriftliche Seiten darauf, in die Ordnung gebracht zu werden, die sie verdienen. Dass Felder sterben muss, scheint ihn, wie Vieles andere in seinem Leben kaum merklich aus der Fassung zu bringen, er war schon immer ein Abwesender, ein Beistehender, selbst wenn er k\u00f6rperlich anwesend war. Als der Freund nach Felders Tod schlie\u00dflich beginnt, die Notizen zu sichten, entdeckt er eine ungeheure Vielzahl absurder Theorien, die der Tote \u00fcber Jahre hinweg gesammelt haben musste. Inhaltlich l\u00e4sst sich zwischen ihnen kein Zusammenhang herstellen, sie reichen von der Ph\u00e4nomenologie des Koitus bishin zu einer bisher unbekannten Kr\u00f6tenart auf Sumatra. Im Laufe seiner Besch\u00e4ftigung mit den wirren Aufzeichnungen wird ihm schlie\u00dflich bewusst, dass sie allesamt erfunden sind. Akribisch zusammenfantasiert von einem Mann, dem er so viel Fantasie gar nicht zugetraut h\u00e4tte.<\/p>\n

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Die Menschen denken und reden vielleicht kompliziert, aber sie verhalten sich einfach. So einfach und durchschaubar, dass es peinlich ist, setzte er hinzu und meinte dann noch, dass es komplizierter w\u00e4re, Pflanzen bei Laune zu halten als Menschen. Bei ihm h\u00e4tte trotz aufopfernder Pflege noch keine Zimmerpflanze l\u00e4nger als eine Woche \u00fcberlebt, dass einem ein Mensch eingeht, w\u00e4re hingegen nur mit gr\u00f6bster Fahrl\u00e4ssigkeit m\u00f6glich.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Wolfgang Popps Erz\u00e4hlungen sind von einer so erfrischenden Originalit\u00e4t, dass man zun\u00e4chst einmal ziemlich aus den Socken gehauen ist. Man hat nicht den Eindruck, etwas ohnehin bereits Bekanntes blo\u00df in winziger Variation wieder zu lesen, sondern st\u00fcrzt sich auf die besonderen Geschichten, die in Komposition und Sprache hervorragend sind. Popps Protagonisten sind einerseits zur\u00fcckhaltende Zauderer, andererseits, auf Seiten der Verschwundenen und Wiederkehrer, nicht selten Exzentriker und Sonderlinge. Aber diese Kombination funktioniert, ohne abgeschmackt zu wirken. Mit gro\u00dfer Begeisterung wird der aufmerksame Leser auch bemerken, dass einige Figuren sich \u00fcber die Grenzen ihrer eigenen Erz\u00e4hlungen hinaus begegnen oder bekannt sind. Manche steigen im selben Hotel ab, andere werden in der einen Geschichte blo\u00df erw\u00e4hnt und in einer anderen pl\u00f6tzlich selbst zum Protagonisten. Diese Spuren, die die Verschwundenen nichtsdestotrotz in anderen Leben hinterlassen, verleihen den Erz\u00e4hlungen Festigkeit, fassen sie gewisserma\u00dfen ein in ein Erz\u00e4hlgewebe, das nicht f\u00fcr sich allein steht. Und \u00fcber diese unmittelbare Wirkung w\u00e4hrend des Lesens hinaus erinnert es auf sehr charmante Weise daran, dass wir alle Spuren hinterlassen. Nicht immer solche, die von Dauer sind. Aber wie sagte schon Aragorn in Tolkiens Herr der Ringe: “Ganz und gar zu verschwinden, das ist eine seltene Gabe.” Wolfgang Popps Erz\u00e4hlungen sind eine Entdeckung, die ich auch euch dringend ans Herz legen m\u00f6chte! Bitte lesen!<\/p>\n

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Wolfgang Popp – Die Verschwundenen, Edition Atelier<\/a>, 240 Seiten, 9783903005020, 19,95 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Auch wenn wir uns manchmal dessen gar nicht bewusst sind: Jeden Tag verschwinden Menschen aus unserem Fokus, die wir einmal kannten. Manche gut, andere nur fl\u00fcchtig, in ganz verschiedenen Kontexten. Wenn wir manche davon wiedertreffen, ist Vieles ganz anders geworden, haben sich Leben und Priorit\u00e4ten pl\u00f6tzlich verschoben. Was fr\u00fcher einmal passte, kann heute Reibung verursachen. Wolfgang Popp erz\u00e4hlt gekonnt von Wiederbegegnung und Verlusten und strickt dabei ein Netz, das \u00fcber die Grenzen der einzelnen Geschichten hinaus wirkt. Keiner tauscht sich so offen aus, bemerkte ich erstaunt, wie zwei Fremde im Schutz ihrer Fremdheit. Ein Hotelkritiker trifft in Neapel auf einen ehemaligen Lehrer, der damals \u00fcberraschend und pl\u00f6tzlich gek\u00fcndigt hatte und aus der Stadt verschwunden war. Ein sterbender Jugendfreund bittet den anderen nach Jahren der Funkstille seine Notizen in Buchform zu gie\u00dfen und zu ver\u00f6ffentlichen. Nicht Eulen nach Athen, sondern das Foto eines vermeintlich ausgestorbenen K\u00e4uzchens wollen zwei alte Freunde aus Griechenland heraustragen, um ein hohes Preisgeld einzustreichen. Ein Mann entscheidet sich mit seinem Liebhaber f\u00fcr eine Expedition zu den s\u00fcdamerikanischen Pequod und wird \u00fcber die …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":8591,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[1911,16],"tags":[2010,1794,2009],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/06\/wolfgangpopp.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8590"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=8590"}],"version-history":[{"count":7,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8590\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":8607,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8590\/revisions\/8607"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/8591"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=8590"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=8590"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=8590"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}