{"id":8047,"date":"2015-03-16T14:40:08","date_gmt":"2015-03-16T12:40:08","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=8047"},"modified":"2015-03-16T15:33:46","modified_gmt":"2015-03-16T13:33:46","slug":"kristine-bilkau-die-gluecklichen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/03\/kristine-bilkau-die-gluecklichen\/","title":{"rendered":"Kristine Bilkau – Die Gl\u00fccklichen"},"content":{"rendered":"

Isabell und Georg sind junge Eltern. Sie Cellistin und er Journalist. Beide werden immer wieder von Versagens\u00e4ngsten und Leistungsdruck geplagt, die nach und nach ihr Leben zum Erliegen bringen. Wohin f\u00fchrt der Anspruch, alles im Leben richtig, besser machen zu wollen als die Eltern? Und wie n\u00fctzlich kann das Scheitern sein? Kristine Bilkau erz\u00e4hlt in ihrem Deb\u00fctroman eine hochaktuelle Geschichte zweier Menschen, deren gr\u00f6\u00dfte Angst das Verlieren und Scheitern ist.<\/strong><\/p>\n

Es beginnt damit, dass Isabells Bogenhand zittert. Schon beim Stimmen ihres Instruments f\u00fchlt sie sich von ihren Orchesterkollegen beobachtet, kritisch gemustert. Was, wenn sie sich verspielt, ihren Einsatz verpasst? Was, wenn die anderen ihr Zittern, ihre Unzul\u00e4nglichkeit bemerken und ein harsches Urteil f\u00e4llen? Nicht nur \u00fcber sie als Musikerin, sondern \u00fcber sie als Mensch. Sie liest \u00fcber Musiker und Musikerinnen, die nach einem psychischen Zusammenbruch nie mehr auf die B\u00fchne zur\u00fcckkehren konnten. Was denken wohl die anderen M\u00fctter \u00fcber sie, wenn sie ihren kleinen Sohn aus der Kita abholt? Auch Georg als Journalist sieht sich dem Umbruch in seiner Branche vergleichsweise hilflos gegen\u00fcber, st\u00e4ndig stehen K\u00fcndigungen und K\u00fcrzungen im Raum, von denen er sich und seine Familie bedroht sieht. Beide, Isabell und Georg, leben in st\u00e4ndiger Angst davor, das Gl\u00fcck nicht halten oder durch eigene Verfehlungen verlieren zu k\u00f6nnen. Sie stehen unter dem st\u00e4ndigen Druck, moralisch, \u00f6kologisch, politisch und menschlich richtige Entscheidungen zu treffen, nach au\u00dfen einen guten Eindruck zu hinterlassen. Und sei es in letzter Konsequenz nur noch durch das Wohnviertel, in dem sie leben und dessen Ruf eine gewisse gesellschaftliche Stellung seiner Bewohner nahelegt.<\/p>\n

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Er singt weiter und ihm f\u00e4llt ein, dass sie kein Bier haben. Wann hat er zum letzten Mal abends eins getrunken? Das muss Wochen her sein. Vielleicht ist noch eine letzte Flasche nach hinten gerollt oder steht seitlich im Fach, gut getarnt zwischen zwischen Karotten – und Apfels\u00e4ften. Und Chips w\u00e4ren nicht schlecht. Aber auch die haben sie nicht. Er wei\u00df, was im Schrank liegt: Reiswaffeln, Zwieback, Dinkelkekse.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Isabell l\u00e4sst sich schlussendlich krankschreiben, um dem Druck zu entgehen; Georg wird, nach einigen Hoffnungen auf eine neue Stelle, schlie\u00dflich doch gek\u00fcndigt. Unnachgiebig bek\u00e4mpfen sich die beiden, die sich sonst durch klare zeitliche Regelungen – er geht morgens aus dem Haus und wenn er wiederkommt, geht sie ins Theater – kaum gesehen haben. Sie k\u00f6nnen sich gemeinsam nicht mehr ertragen, empfinden st\u00e4ndig eine diffuse Schuld, die sie sich vom jeweils anderen aufgeb\u00fcrdet sehen. Selbst das eigene Familienleben wird schlie\u00dflich zum Korsett von Erwartungen. Er findet, sie spart nicht genug. Sie findet, sein Schweigen schiebt ihr die Verantwortung f\u00fcr die Situation zu. Kristine Bilkau gelingt es bravour\u00f6s, die \u00dcberreiztheit und gedankliche Verstrickung Georgs und Isabells plastisch und nachvollziehbar darzustellen. Wer es nicht schon ohnehin vorher an sich selbst bemerkt hat, entwickelt mit fortschreitender Lekt\u00fcre ein Gef\u00fchl daf\u00fcr, wie es ist, st\u00e4ndig Angst zu haben; vor dem Kontrollverlust, dem Wertverlust, dem Ich-Verlust.<\/p>\n

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Weniger Strom und Wasser verbrauchen, sowieso. Es ist wie eine Probe. Sie werden etwas herausfinden. \u00dcber sich als Paar, als Familie. Oder irrt er sich? Radiert er mit all diesen Ma\u00dfnahmen den Alltag aus? H\u00f6hlt ihn aus, um die Fassade zu retten? Wenn er das w\u00fcsste. Er braucht eine klare Richtung, eine Zukunft. Er will endlich wissen, wohin, ohne dieses Gef\u00fchl der Enge in der Brust, und wenn, und wenn, und wenn.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Man ist Kristine Bilkau sehr dankbar daf\u00fcr, dass sie keine lieblose Geschichte \u00fcber in obligatorische Existenzkrisen geratene Mittdrei\u00dfiger schreibt, die sich in ihren gentrifizierten Stadtteilen blo\u00df noch die H\u00e4lfte ihrer \u00fcberteuerten Bioprodukte leisten k\u00f6nnen. Kristine Bilkaus literarische Analyse reicht tiefer hinein in eine Gesellschaft, deren zentrales Ziel die Effizienzsteigerung in jedem Lebensbereich ist. Nicht mehr nur im Beruflichen muss man sich zu verkaufen wissen, auch das Privatleben muss pr\u00e4sentabel aufbereitet werden. F\u00fcr die anderen, die das auch tun. F\u00fcr sich selbst, damit man nicht zu zweifeln beginnt. Der Anspruch, jeden Fehlschlag schon im Vorhinein abzuwenden, sorgt auch im Falle von Isabell und Georg f\u00fcr Stillstand und st\u00e4ndige Anspannung. Erst ein Schicksalsschlag rei\u00dft beide aus ihrer Effizienzstarre. ,Die Gl\u00fccklichen’ ist also, entgegen aller unbest\u00e4tigten Bef\u00fcrchtungen, ein sehr lesenswertes Portr\u00e4t zweier Menschen, wie es heute in unserer durchorganisierten Leistungsgesellschaft viele geben d\u00fcrfte. In seinem Subtext sagt es leise immer wieder: Lasst los, lernt zu scheitern, – fail, try again, fail better<\/em>.<\/p>\n

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Da packt sie die kalte Panik, ihnen wird die Luft ausgehen, ganz egal, wohin sie ziehen, zusammen zu scheitern ist schlimmer als allein. Wer allein ist, wird nicht beobachtet, muss keine Haltung bewahren, muss sich nicht als Ursache f\u00fcr das n\u00e4chstbeste Problem f\u00fchlen und die Frage, wer recht oder unrecht hat, ist auch nicht mehr wichtig.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Kristine Bilkau: Die Gl\u00fccklichen, Luchterhand Literaturverlag<\/a>, 304 Seiten, 9783630874531, 19,99 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Isabell und Georg sind junge Eltern. Sie Cellistin und er Journalist. Beide werden immer wieder von Versagens\u00e4ngsten und Leistungsdruck geplagt, die nach und nach ihr Leben zum Erliegen bringen. Wohin f\u00fchrt der Anspruch, alles im Leben richtig, besser machen zu wollen als die Eltern? Und wie n\u00fctzlich kann das Scheitern sein? Kristine Bilkau erz\u00e4hlt in ihrem Deb\u00fctroman eine hochaktuelle Geschichte zweier Menschen, deren gr\u00f6\u00dfte Angst das Verlieren und Scheitern ist. Es beginnt damit, dass Isabells Bogenhand zittert. Schon beim Stimmen ihres Instruments f\u00fchlt sie sich von ihren Orchesterkollegen beobachtet, kritisch gemustert. Was, wenn sie sich verspielt, ihren Einsatz verpasst? Was, wenn die anderen ihr Zittern, ihre Unzul\u00e4nglichkeit bemerken und ein harsches Urteil f\u00e4llen? Nicht nur \u00fcber sie als Musikerin, sondern \u00fcber sie als Mensch. Sie liest \u00fcber Musiker und Musikerinnen, die nach einem psychischen Zusammenbruch nie mehr auf die B\u00fchne zur\u00fcckkehren konnten. Was denken wohl die anderen M\u00fctter \u00fcber sie, wenn sie ihren kleinen Sohn aus der Kita abholt? Auch Georg als Journalist sieht sich dem Umbruch in seiner Branche vergleichsweise hilflos gegen\u00fcber, st\u00e4ndig stehen …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":8048,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[1929,1928,1307],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/03\/kristinebilkau.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8047"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=8047"}],"version-history":[{"count":6,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8047\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":8055,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8047\/revisions\/8055"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/8048"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=8047"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=8047"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=8047"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}