{"id":7994,"date":"2015-03-10T08:00:07","date_gmt":"2015-03-10T06:00:07","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=7994"},"modified":"2015-03-09T22:34:55","modified_gmt":"2015-03-09T20:34:55","slug":"jan-wagner-regentonnenvariationen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/03\/jan-wagner-regentonnenvariationen\/","title":{"rendered":"Jan Wagner – Regentonnenvariationen"},"content":{"rendered":"

Es war so etwas wie eine kleine Sensation, als bekanntgegeben wurde, dass der Lyriker Jan Wagner mit seinem Gedichtband f\u00fcr den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Niemals zuvor war ein Gedichtband gemeinsam mit anderen Belletristiktiteln – oder \u00fcberhaupt – nominiert und vielleicht ist es auch schwierig, beides gegen\u00fcberzustellen. Gewiss ist aber: Die Regentonnenvariationen sind jeden Blick wert!<\/strong><\/p>\n

Vielleicht ist es ein \u00dcberbleibsel aus der Schulzeit, der Gedichtform grunds\u00e4tzlich erstmal kritisch gegen\u00fcberzustehen. Gequ\u00e4lt wurde man mit dem auswendigen Repetieren verstaubter Balladen – jedenfalls empfand man es so. Gedichte eignen sich interessanterweise bedeutend h\u00e4ufiger dazu, pubert\u00e4ren Schmerz auszudr\u00fccken als sie nach der \u00dcberwindung desselben tats\u00e4chlich zu lesen. Unz\u00e4hlige Teenager versifizieren ihre Gef\u00fchle, mal mehr und mal weniger stilsicher, danach aber wollen die wenigsten noch etwas mit Lyrik zu tun haben. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, sie kann gehen. Dabei er\u00f6ffnet die gebundene Sprache M\u00f6glichkeiten des Ausdrucks, die ein Prosatext niemals haben wird. Nicht jedenfalls, ohne gestelzt und schwerf\u00e4llig zu klingen. Lyrik ist ein Spiel mit Sprache, mit ganz verschiedenen Bedeutungsnuancen und Klangformen, Lyrik ist die freigelassene Sprache. Das wird auch in Wagners ,Regentonnenvariationen’ deutlich erkennbar. Es geht um Ver\u00e4nderungen, Metamorphosen, um eine Art mikroskopischen Blick auf die Welt. Jan Wagner entwirft einen lyrischen Mikrokosmos, in dem selbst das Falten eines Lakens oder das Waschen der H\u00e4nde ganz andere Dimensionen annimmt als wir ihnen gew\u00f6hnlich zugestehen.<\/p>\n

so faltete man laken: die arme
\nweit ausgebreitet, da\u00df man sich zu spiegeln
\nbegann \u00fcber die straffgespannte fl\u00e4che
\nhinweg; der w\u00e4schefoxtrott dann, bis schritt
\num schritt ein rechteck im n\u00e4chstkleineren
\nverschwand, bis sich die nasen fast ber\u00fchrten.<\/p><\/blockquote>\n

Es geh\u00f6rt zu Qualit\u00e4t und Aufgabe der Lyrik, neuartige Bilder in den bekannten zu erblicken, die Perspektive auf Altbekanntes zu ver\u00e4ndern. Das ist ihr Trumpf, uns die Welt anders erscheinen zu lassen als wir sie kennen. Und spielerische Kombinationen in unserer Sprache auszumachen, die uns selbst gar nicht bewusst geworden w\u00e4ren. Jan Wagner wirft nicht nur diesen mikroskopischen, sondern gleicherma\u00dfen auch einen wehm\u00fctigen Blick in die Weite, entdeckt in den Augen zweier sizilianischer Esel die St\u00e4rke von Espresso, in den Dingen selbst etwas Namenloses, das sie zusammenh\u00e4lt.<\/p>\n

wir haben helden vergiftet, prinzen gelehrt
\nhaben helden vergiftet, fa\u00df um fa\u00df geleert
\nund doch war alles irgendwie verkehrt.<\/p><\/blockquote>\n

Nicht immer nutzt Jan Wagner diese offensichtlichen und gef\u00e4lligen Reime, viel h\u00e4ufiger zieht es ihn zum unreinen Reim, wie er auch im Interview mit Tobias Nazemi<\/a> von Buchrevier zu Protokoll gibt. Viel mehr ergeben sie sich oft \u00fcber Versgrenzen hinweg, in \u00e4hnlichen, aber nicht identischen Lauten. Manchmal ist es auch nur das Spiel mit gleichlautenden Worten unterschiedlicher Bedeutung, so besonders in dem Gedicht “anna”, das mit den verschiedenen Bedeutungen von ,scharte<\/em>‘ eindr\u00fccklich zu spielen versteht. Wer dar\u00fcber hinaus immer glaubte, Gedichte k\u00f6nnten h\u00f6chstens Momente, keine Geschichten erz\u00e4hlen, der wird auch hier von den Regentonnenvariationen eines Besseren belehrt. In manch einem Gedicht, wie bereits im oben erw\u00e4hnten “anna” steckt eine winzige Geschichte, die durch die gebundene Sprache nichts an Kraft verliert, sondern ihren ganz eigenen Rhythmus entwickelt. Im Grunde ist es also schwierig, Prosa und Lyrik gegen\u00fcberzustellen und nach den gleichen Kriterien bewerten zu wollen. Nichtsdestotrotz kann man dankbar daf\u00fcr sein, dass ein Werk wie dieses durch die Nominierung einen berechtigten Aufmerksamkeitszuschuss erh\u00e4lt. Freilich naiv zu glauben, daraus w\u00fcrde grunds\u00e4tzlich mehr Interesse und Aufgeschlossenheit der Lyrik gegen\u00fcber erwachsen, – aber wenn es nur ein paar wenige Leser zur Auseinandersetzung mit Gedichten anstiftet, ist etwas gewonnen. Lest mehr Lyrik, sage ich. Lest Jan Wagner. Ein vielversprechender Kandidat!<\/p>\n

\n

einmal verlegte ich mein pausenbrot
\nin einer s\u00fcdhalbkugel, die noch einzeln
\nund offen war. nun tr\u00e4umt ein junge, bohrt
\nsich in der nase, sucht die sandwich-inseln.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Jan Wagner: Regentonnenvariationen, Hanser Berlin<\/a>, 112 Seiten, 9783446246461, 15,90 \u20ac<\/span><\/p>\n

Hier<\/a> auch die Rezensionen des Bloggerpaten von Jan Wagner, Tobias von Buchrevier. F\u00fcr ihn ist die Lekt\u00fcre von Wagners Gedichten viel mehr der Beginn einer Reise.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Es war so etwas wie eine kleine Sensation, als bekanntgegeben wurde, dass der Lyriker Jan Wagner mit seinem Gedichtband f\u00fcr den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Niemals zuvor war ein Gedichtband gemeinsam mit anderen Belletristiktiteln – oder \u00fcberhaupt – nominiert und vielleicht ist es auch schwierig, beides gegen\u00fcberzustellen. Gewiss ist aber: Die Regentonnenvariationen sind jeden Blick wert! Vielleicht ist es ein \u00dcberbleibsel aus der Schulzeit, der Gedichtform grunds\u00e4tzlich erstmal kritisch gegen\u00fcberzustehen. Gequ\u00e4lt wurde man mit dem auswendigen Repetieren verstaubter Balladen – jedenfalls empfand man es so. Gedichte eignen sich interessanterweise bedeutend h\u00e4ufiger dazu, pubert\u00e4ren Schmerz auszudr\u00fccken als sie nach der \u00dcberwindung desselben tats\u00e4chlich zu lesen. Unz\u00e4hlige Teenager versifizieren ihre Gef\u00fchle, mal mehr und mal weniger stilsicher, danach aber wollen die wenigsten noch etwas mit Lyrik zu tun haben. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, sie kann gehen. Dabei er\u00f6ffnet die gebundene Sprache M\u00f6glichkeiten des Ausdrucks, die ein Prosatext niemals haben wird. Nicht jedenfalls, ohne gestelzt und schwerf\u00e4llig zu klingen. Lyrik ist ein Spiel mit Sprache, mit ganz verschiedenen Bedeutungsnuancen und Klangformen, Lyrik ist die freigelassene …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":7995,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[1905,16],"tags":[1150,1923,1925,1924],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/03\/janwagner.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/7994"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=7994"}],"version-history":[{"count":14,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/7994\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":8009,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/7994\/revisions\/8009"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/7995"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=7994"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=7994"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=7994"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}