{"id":7495,"date":"2015-01-29T13:39:43","date_gmt":"2015-01-29T11:39:43","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=7495"},"modified":"2015-02-26T21:14:15","modified_gmt":"2015-02-26T19:14:15","slug":"daniela-krien-muldental","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2015\/01\/daniela-krien-muldental\/","title":{"rendered":"Daniela Krien – Muldental"},"content":{"rendered":"

Der Muldentalkreis geh\u00f6rt bereits seit einiger Zeit der Vergangenheit an, bis 2008 lag er im Norden von Sachsen. Benannt nach der Mulde, dem dortigen Fluss. Daniela Krien, deren Romandeb\u00fct ,Irgendwann werden wir uns alles erz\u00e4hlen<\/em>‘ 2011 gro\u00dfe Erfolge feierte, erz\u00e4hlt in ,Muldental<\/em><\/a>‘ nun die Geschichten von Menschen, die zur\u00fcckgelassen wurden. Menschen, die man zynisch oft Wendeverlierer nannte, Kollateralsch\u00e4den der deutschen Wiedervereinigung. Es sind zehn Geschichten von au\u00dferordentlicher Wucht und Klarheit.<\/strong><\/p>\n

Wer an den Mauerfall denkt, sieht vor seinem inneren Auge jubelnde Menschen, die sich in den Armen liegen. Erinnert sich an verhei\u00dfungsvolle Zukunftspl\u00e4ne, das Gef\u00fchl der pl\u00f6tzlichen Freiheit, wenn man aus dem Osten kam. Nicht f\u00fcr alle lief der Prozess der Wiedervereinigung schmerzlos ab, manche blieben zur\u00fcck in dem, was sie seit Jahrzehnten kannten und pl\u00f6tzlich Vergangenheit geworden war. Daniela Kriens Erz\u00e4hlungen legen den Finger direkt in die Wunde, mit nahezu erbarmungsloser Pr\u00e4zision l\u00e4sst sie Figuren scheitern und sich befreien. So wie Marie, die noch in der DDR der Stasi als Informantin \u00fcber die K\u00fcnstlerbesuche ihres Mannes Auskunft gab. Alles sehr vage, findet auch die Staatssicherheit, doch als Hans davon Kenntnis erlangt, l\u00e4sst er sie b\u00fc\u00dfen. Jahrelang muss sie ihm, der an Multipler Sklerose erkrankt ist, in allen lebenspraktischen Belangen zu Diensten sein. Bis er sich schlie\u00dflich erh\u00e4ngt. Und die Mauer f\u00fcr Marie ein zweites Mal f\u00e4llt. Anne wiederum macht ihre Ausbildung in einer Zahnarztpraxis in Westdeutschland. Man f\u00fchlt sich dort von “Ossis” bedr\u00e4ngt, \u00fcberlaufen in einer Weise wie man es heute den Fl\u00fcchtlingen vorwerfen mag.<\/p>\n

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Also, Mama, wenn du es genau wissen willst: Heute hat mich der Chef fr\u00fcher gehen lassen, oder besser gesagt nach Hause geschickt, weil Frau Huber, bei der eine Paradontosebehandlung durchgef\u00fchrt werden musste, nicht wollte, dass ich assistiere. Sie hatte Angst, ich k\u00f6nnte sie mit einer Krankheit anstecken. Genauer gesagt hatte sie Angst vor meinen Bakterien, obwohl ich Gummihandschuhe anhatte. Sie meinte, sie habe nichts gegen Ostdeutsche, aber die h\u00e4tten doch andere Bakterien als die Westdeutschen (…)<\/p>\n<\/blockquote>\n

Anne rebelliert, im Rahmen ihrer M\u00f6glichkeiten und mit ihrem Freund Mattis. Gegen das Kleinb\u00fcrgertum, Heuchelei, innerdeutsche Ressentiments. Andere haben l\u00e4ngst aufgegeben und sich gef\u00fcgt. Bettina und Maren, die beschlie\u00dfen, sich f\u00fcr ein bisschen Geld in einer angemieteten Wohnung zu prostituieren. Plan B nennen sie das. Otto, der als Werkzeugbauer im Osten erfolgreich war, im Westen aber dem Alkohol verf\u00e4llt. Dessen verzweifelte Anpassung an das, was er und seine Frau f\u00fcr einen westlichen Lebensstil halten, ihn in den finanziellen und pers\u00f6nlichen Ruin treibt. Die schizophrene Eva, der unter einem Vorwand mithilfe ihres Bruders die Ausreise in den Westen gelingt, kurz bevor die Mauer gebaut und jedes Wiedersehen verhindert wird. Wiebke, die trotz abgeschlossenen Studiums bei einer ehemaligen Kommilitonin als Putzhilfe arbeitet.<\/p>\n

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Er steht am offenen K\u00fcchenfenster und sieht in den Hof hinaus. Ihm ist als sei die Schwerkraft heute st\u00e4rker als sonst. Alles an ihm und in ihm zieht nach unten.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Freilich ist nicht allein die Wende verantwortlich zu machen f\u00fcr die erlittenen Schicksalsschl\u00e4ge, f\u00fcr viele aber war dieser historische und gesellschaftliche Bruch in ihrer Lebenswirklichkeit irreparabel. Hoffnungen zerschlugen sich schnell. Nicht \u00fcberall wurden Ostdeutsche mit offenen Armen empfangen, vielmehr galten sie als Schmarotzer, die nun vom Westen wieder aufgep\u00e4ppelt werden m\u00fcssten, als Unwissende, die allem voran \u00fcberhaupt erst ganz wesentliche Kompetenzen erlernen m\u00fcssten, um im Westen bestehen zu k\u00f6nnen. 2009 beklagte Michael Wolffsohn, Professor f\u00fcr Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversit\u00e4t eine Ossifizierung<\/a> der Bundeswehr. Als Bewerber aus den neuen Bundesl\u00e4ndern<\/a> kann man auch genau deshalb schon von Vornherein als Ossi abgelehnt werden, noch heute. Die Klischees sind, beiderseits, noch immer fest in den K\u00f6pfen verankert, auch \u00fcber 25 Jahre nach dem Mauerfall. ,Muldental’ ist wie ein Schlag in die Magengrube, unnachgiebig und von einer sprachlichen und stilistischen Klarheit, die beeindruckt. Kein Wort ist hier an der falschen Stelle, nirgendwo schweift Daniela Krien unbotm\u00e4\u00dfig ab. Sie wei\u00df, was sie erz\u00e4hlen will. Und es ist, trotz aller Tragik und H\u00e4rte, eine Freude, als Leser ein Teil davon zu sein!<\/p>\n

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Die Wintersonne w\u00e4rmt nicht, sie sticht in den Augen. Zur\u00fcck in die Wohnung will sie nicht.Die Wohnung ist kein Zuhause, nur eine Behausung. Manche Siege sind nur die Vollendung einer Niederlage, denkt sie.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Daniela Krien: Muldental, Graf Velag<\/a>, 224 Seiten, 9783862200221<\/span>, 18,00 \u20ac<\/span><\/p>\n

Das Taschenbuch erscheint im August 2015 bei List<\/a>. Im B\u00fccherwurmloch<\/a> oder bei Ruth Justen<\/a> finden sich weitere Rezensionen.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Der Muldentalkreis geh\u00f6rt bereits seit einiger Zeit der Vergangenheit an, bis 2008 lag er im Norden von Sachsen. Benannt nach der Mulde, dem dortigen Fluss. Daniela Krien, deren Romandeb\u00fct ,Irgendwann werden wir uns alles erz\u00e4hlen‘ 2011 gro\u00dfe Erfolge feierte, erz\u00e4hlt in ,Muldental‘ nun die Geschichten von Menschen, die zur\u00fcckgelassen wurden. Menschen, die man zynisch oft Wendeverlierer nannte, Kollateralsch\u00e4den der deutschen Wiedervereinigung. Es sind zehn Geschichten von au\u00dferordentlicher Wucht und Klarheit. Wer an den Mauerfall denkt, sieht vor seinem inneren Auge jubelnde Menschen, die sich in den Armen liegen. Erinnert sich an verhei\u00dfungsvolle Zukunftspl\u00e4ne, das Gef\u00fchl der pl\u00f6tzlichen Freiheit, wenn man aus dem Osten kam. Nicht f\u00fcr alle lief der Prozess der Wiedervereinigung schmerzlos ab, manche blieben zur\u00fcck in dem, was sie seit Jahrzehnten kannten und pl\u00f6tzlich Vergangenheit geworden war. Daniela Kriens Erz\u00e4hlungen legen den Finger direkt in die Wunde, mit nahezu erbarmungsloser Pr\u00e4zision l\u00e4sst sie Figuren scheitern und sich befreien. So wie Marie, die noch in der DDR der Stasi als Informantin \u00fcber die K\u00fcnstlerbesuche ihres Mannes Auskunft gab. Alles sehr vage, findet auch die …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":7496,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[1911,16],"tags":[1823,1135,1824,1562],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2015\/01\/muldental.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/7495"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=7495"}],"version-history":[{"count":10,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/7495\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":7811,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/7495\/revisions\/7811"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/7496"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=7495"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=7495"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=7495"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}