Misha Anouk w\u00e4chst als Zeuge Jehovas in dem Glauben an die S\u00fcnde, den Teufel, das nahende Harmagedon und die Rettung der Zeugen aus der Apokalypse auf. Hinterfragt wird davon wenig, er wird von kleinauf mit Angst, Scham und Schuldgef\u00fchl sozialisiert, die stetig unter der Oberfl\u00e4che brodeln. Bis er 2003 als S\u00fcnder ausgeschlossen wird.<\/strong><\/p>\n “Ours is not to reason why” sagte Misha Anouks Vater immer dann, wenn eine Frage das Glaubensgeb\u00e4ude der Zeugen Jehovas ins Wanken brachte. Immer dann, wenn Dinge unlogisch waren, unklar. Immer dann, wenn man au\u00dferhalb der Grenzen dachte, die die Wachtturm-Gesellschaft und die sogenannte Leitende K\u00f6rperschaft ihren Sch\u00e4fchen setzte. Listen, obey and be blessed <\/em>lautet der Titel eines vielgesungenen Liedes innerhalb stabiler K\u00f6nigreichssaalmauern. H\u00f6r zu, gehorche und sei gesegnet. Beinahe jeder von uns hat bereits einmal unvorbereitet den Zeugen Jehovas die T\u00fcr ge\u00f6ffnet. Sie sind unauff\u00e4llig, freundlich, gut gekleidet. Meistens wollen sie nur ein bisschen \u00fcber Gott sprechen, uns die Bibel n\u00e4her und auf andere Gedanken bringen.<\/p>\n Henry Ford soll bei der Vorstellung des Model T gesagt haben, dass der Kunde den Wagen in jeder gew\u00fcnschten Farbe haben k\u00f6nne, solange sie schwarz sei. Genau so f\u00fchlte es sich f\u00fcr mich an, ein Zeuge Jehova zu sein.<\/p>\n<\/blockquote>\n Was wir meistens als kurze und folgenlose Unterbrechung unseres Alltags erleben, ist f\u00fcr die Zeugen Jehovas elementarer Bestandteil ihres Glaubens. Der sogenannte Predigtdienst wird von jedem Zeugen verrichtet, \u00fcber die derart verbrachte Zeit auf urbaner “Mission” muss Rechenschaft abgelegt werden. Wie viele Stunden sind monatlich auf den Predigtdienst entfallen? Durch einen au\u00dfergew\u00f6hnlich niedrigen Wert kann man schon in Ungnade fallen oder mindestens Zweifel an der bedingungslosen Hingabe zu Jehova ausl\u00f6sen. Auch Misha Anouk leistet Predigtdienst, – es ist ihm zuwider, es ist ihm nie leichtgefallen, mit Fremden ins Gespr\u00e4ch zu kommen. Die Zeugen Jehovas feiern weder Weihnachten noch Geburtstage, auch der Umgang mit weltlichen Kindern gilt gemeinhin als “schlechte Gesellschaft”. Wenn er sich auch in der Schule nicht vermeiden l\u00e4sst, so kann man ihn auf ein Mindestma\u00df beschr\u00e4nken. An Klassenfahrten darf Misha nicht teilnehmen.<\/p>\n Angst ist der Eckpfeiler der Zeugen-Jehovas-Lehre. Die Angst vor Harmagedon, vor einem schlechten Gewissen, vor einem allsehenden Gott; die Angst davor, Gott zu entt\u00e4uschen, das Paradies zu verpassen, sich einen D\u00e4mon einzufangen: all das h\u00e4lt einen Zeugen Jehovas auf Trab und ist der st\u00e4ndige Begleiter im Alltag.<\/p>\n<\/blockquote>\n Die “Klassenfahrten” der Zeugen Jehovas sind gro\u00dfe Kongresse, die in regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden stattfinden und ein ganzes Wochenende dauern. Dort werden Mitglieder auf Linie gebracht, dort werden neue Publikationen vorgestellt, dort wird das Wir-Gef\u00fchl gest\u00e4rkt. Schlie\u00dflich leben die Zeugen Jehovas noch immer in st\u00e4ndiger Erwartung des nahenden Weltuntergangs, den nur sie dank ihres Glaubens unbeschadet \u00fcberstehen werden. Dass sich die Voraussagen \u00fcber den exakten Zeitpunkt bisher jedes Mal geirrt, viele Zeugen in freudiger Erwartung ihr Hab und Gut verkauft haben, spielt nur bei wenigen eine Rolle. Irgendwann muss Harmagdeon kommen. Exakt datierte Voraussagen werden von der Wachtturm-Gesellschaft ohnehin nicht mehr gemacht.<\/p>\n Die Wachtt\u00fcrme und Z\u00e4une bei den Zeugen Jehovas sind bunt angestrichen. Weil sie nicht dem Zweck dienen, niemanden hineinzulassen. Sie sollen niemanden hinauslassen.<\/p>\n<\/blockquote>\n Misha Anouk erz\u00e4hlt in humorvollem und treffsicherem Ton in ,Goodbye Jehova’ nicht blo\u00df seine ganz pers\u00f6nliche Geschichte, er reichert die Beschreibungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen \u00fcber gewisse Manipulationstechniken an, er belegt seine Behauptungen mit Texten aus Wachtturm-Publikationen, er r\u00e4umt mit berechtigten und unberechtigten Vorurteilen gegen die Zeugen Jehovas auf. Und so l\u00e4sst sich sein Buch nicht nur als Fallstudie eines Einzelnen, sondern als umfassendes Portr\u00e4t einer Organisation sehen, die viele Millionen Menschen gezielt manipuliert, bel\u00fcgt und kontrolliert. Im Gegensatz zu Scientology l\u00e4uft bei den Zeugen Jehovas vieles auf einer deutlich subtileren Ebene ab, werden vermeintliche Wahrheiten durch gezielte Beeinflussung so nachhaltig indoktriniert, dass der Zweifler – wenn er denn zweifelt – nicht die Organisation in Frage stellt, sondern sich selbst. ,Goodbye Jehova’ ist ein beeindruckendes Buch, dessen detaillierter Einblick in die Organisation und Methodik k\u00fcnftig jeden Leser vor allen Zusammenschl\u00fcssen bewahren sollte, die Wahrheit und Zusammenhalt an bedingungslose Unterwerfung kn\u00fcpfen. Ein authentischer, offener und glaubw\u00fcrdiger Bericht.<\/p>\n Misha Anouk bloggt auch auf indub.io<\/a><\/p>\n\n
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