{"id":6697,"date":"2014-09-21T15:55:20","date_gmt":"2014-09-21T13:55:20","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=6697"},"modified":"2015-02-26T22:11:01","modified_gmt":"2015-02-26T20:11:01","slug":"das-leiden-der-nacht","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/09\/das-leiden-der-nacht\/","title":{"rendered":"Charles Jackson – Das verlorene Wochenende"},"content":{"rendered":"

Er war die Freundlichkeit in Person, au\u00dfer zu sich selbst<\/em>, schrieb Arthur Miller in seinen Erinnerungen \u00fcber Charles Jackson. \u00dcber den Mann, der 1944 mit seinem Alkoholikerdrama ,The Lost Weekend’ eine Ber\u00fchmtheit und Anerkennung erlangte, die ihm nach diesem Roman und Billy Wilders Verfilmung nicht mehr zuteil werden sollte. Jackson war bereits 41, als er diesen packenden Deb\u00fctroman schrieb, sicherlich in vielerlei Hinsicht inspiriert vom eigenen Leben und Leiden. Auch Jackson selbst k\u00e4mpfte zeitlebens mit seiner Medikamenten – und Alkoholabh\u00e4ngigkeit, bis er sich schlie\u00dflich im September 1968 das Leben nahm; literarisch weitgehend bedeutungslos und seinen D\u00e4monen niemals Herr geworden. Vieles hat er mit seinem Romanhelden Don Birnam gemein, f\u00fcr dessen Verk\u00f6rperung Ray Milland 1946 einen Oscar gewann.<\/p>\n

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Er nahm an, dass er nur einer von mehreren Millionen Menschen seiner Generation war, die erwachsen geworden waren und irgendwann um die drei\u00dfig die verst\u00f6rende Entdeckung gemacht hatten, dass das Leben sich nicht so entwickelte, wie sie es sich immer vorgestellt hatten; doch warum diese Erkenntnis ihn umwerfen sollte und nicht sie – oder nicht sehr viele von ihnen -, war eine Frage, auf die er keine Antwort hatte.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Es ist ein Wochenende im Jahr 1936. Don Birnam, ein gebildeter, aber erfolgloser Mann hat gerade seinen Bruder Wick allein aufs Land fahren lassen, um die freien Tage ganz dem Trinken und der Mu\u00dfe zu widmen. Birnam ist Alkoholiker und obwohl er es hin und wieder schafft, einige Tage n\u00fcchtern verstreifen zu lassen, trinkt er doch oft bis zur Besinnungslosigkeit. In zahlreichen Kneipen kennt man ihn bereits mit Namen, er schuldet kleine Geldbetr\u00e4ge, die er sich in Panik geliehen hat, um neuen Whisky aufzutreiben. Er kennt alle kleinen und gro\u00dfen Notl\u00fcgen, Verstecke f\u00fcr heimliche Reserven, er kennt jeden gedanklichen Winkelzug, um sich seine Sucht als etwas Vor\u00fcbergehendes, seinen Rausch als eine Erfahrung zu verkaufen, aus der er gest\u00e4rkt hervorgeht. Don Birnams Leben richtet sich um das Zentrum Alkohol herum aus – und trotzdem sieht er sich noch immer die Z\u00fcgel in der Hand halten.<\/p>\n

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(…) dazu stets die beruhigende Gewissheit, dass gleich hinter dem Gipfel das herrliche Lethe lag, Lethe, das den neuerlichen Sturz abfangen, die schwindende Ekstase tilgen, Helen und Wick und die ganze stirnrunzelne, unverst\u00e4ndnisvolle Welt ausl\u00f6schen w\u00fcrde. \u00dcberlebensgro\u00df. Nat\u00fcrlich! Das war der Grund, weshalb er trank! Aber wer konnte hoffen, das zu verstehen – wer au\u00dfer dem Mann, der es tat?<\/p>\n<\/blockquote>\n

Besonders eindr\u00fccklich in Buch wie auch Film: Die Szene, in der Don Birnam seine alte Schreibmaschine ins Pfandhaus bringen will, wie er k\u00f6rperlich entkr\u00e4ftet durch Manhattans Stra\u00dfen schlurft, im Arm seine Remington portable und alle Pfandh\u00e4user \u00fcberraschend verschlossen vorfindet. Es ist Jom Kippur, der h\u00f6chste j\u00fcdische Feiertag. Charles Jackson versteht es meisterhaft, die Gedankenkreise des Trinkers nachzuzeichnen, seine Rechtfertigungsversuche, seine F\u00e4higkeit wider besseren Wissens zu bel\u00fcgen, sich selbst wie auch andere. Er zeichnet ein authentisches, ungesch\u00f6ntes Bild der Sucht, in den Farben der Scham, der R\u00fccksichtslosigkeit, der tiefsten Ersch\u00f6pfung und Lebensm\u00fcdigkeit. Charles Jackson wusste, wovon er schrieb, er hatte auch selbst erfahren, was Don Birnam qu\u00e4lte. Nicht umsonst gilt ,Das verlorene Wochenende’ auch unter Medizinern hinsichtlich der beschriebenen Symptome als sehr verl\u00e4ssliches Dokument. Man hatte sogar \u00fcberlegt, dem Roman eine Art ,medizinisches Echtheitssiegel’ voranzustellen, weil man einem Roman \u00fcber einen New Yorker S\u00e4ufer nicht viele Leser zutraute. Man sollte sich tats\u00e4chlich irren, selbst Thomas Mann zeigte sich begeistert.<\/p>\n

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Sicherlich hat der Roman, der nun in wunderbarer Gestaltung wieder in den Buchl\u00e4den liegt, auch seiner Verfilmung einiges an Bekanntheit zu verdanken, wenngleich er in vielerlei Hinsicht noch wesentlich differenzierter ist als die Leinwandumsetzung. Charles Jackson thematisiert Kindheit und Jugend Don Birnams in meist deprimierender Ausformung, er schreibt von sexueller Unsicherheit, die sich besonders auf der Ausn\u00fcchterungsstation eines Krankenhauses Bahn bricht, in das er nach einem Treppensturz eingeliefert wird, von Vaterlosigkeit. Oft tr\u00e4umt Don in betrunkenem Zustand von einer Familie, von gro\u00dfem Erfolg mit einem Buch oder der Musik, alkoholisiert rezitiert er Shakespeare und h\u00f6rt klassische Musik. Wo Billy Wilders Film ein glimpfliches Ende offeriert, bleiben bei Jackson ein bitterer Geschmack und die Gewissheit, dass es nicht so schnell zu Ende geht, selbst wenn man bereits zur Gen\u00fcge in den Abgrund geblickt hat. Als Leser jedenfalls kann man sich \u00fcber diese Wiederentdeckung freuen, die, so schreibt Rainer Moritz im Nachwort, in nicht unwesentlichem Ma\u00dfe dem Autor und Journalisten Blake Bailey zu verdanken ist. Der verfasste neben hochgelobten Biographien \u00fcber John Cheever und Richard Yates auch eine \u00fcber Charles Jackson<\/a>. Eine unbedingte Lese – und Filmempfehlung!<\/p>\n

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Das Delirium ist ein Leiden der Nacht.<\/p>\n<\/blockquote>\n