{"id":6232,"date":"2014-08-11T18:30:46","date_gmt":"2014-08-11T16:30:46","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=6232"},"modified":"2015-02-26T22:22:48","modified_gmt":"2015-02-26T20:22:48","slug":"marion-brasch-wunderlich-faehrt-nach-norden","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/08\/marion-brasch-wunderlich-faehrt-nach-norden\/","title":{"rendered":"Marion Brasch – Wunderlich f\u00e4hrt nach Norden"},"content":{"rendered":"

Irgendwann kommt in jedem Leben der Moment, in dem Ver\u00e4nderung unerl\u00e4sslich, das bisherige Dasein zu eng geworden ist. Zeichenlehrer Wunderlich trifft es ganz klassisch am Ende einer Beziehung, die ihm Halt und Boden war. Er beschlie\u00dft, nach Norden zu fahren und wird auf dem Weg dorthin – fast mag man es ein Wunder nennen – ein ganz neuer Wunderlich.<\/strong><\/p>\n

Wunderlich hat sich in seinem Leben eingerichtet. Er mag keine Ver\u00e4nderungen und plant rigoros, um nichts dem Zufall zu \u00fcberlassen. Doch dann trennt seine Freundin Marie sich von ihm. Unm\u00f6glich, so etwas zu planen. Es passiert einfach und bringt Wunderlich v\u00f6llig aus dem Gleichgewicht. Als ob das allein nicht schon genug w\u00e4re, beginnt pl\u00f6tzlich sein Handy mit ihm zu kommunizieren. Ein gewisser (oder eine gewisse?) Anonym schickt Wunderlich mysteri\u00f6se Nachrichten und es beginnt mit: “Guck nach vorn.”<\/p>\n

\n

Wunderlich war der ungl\u00fccklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das f\u00fcr eine Rolle, wenn das Ungl\u00fcck gr\u00f6\u00dfer ist als man selbst.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Das kann nun auf vielerlei Arten, sinnbildlich oder wortw\u00f6rtlich, verstanden werden. Wunderlich guckt tats\u00e4chlich nach vorn, von dort, wo er sitzt und beginnt zu begreifen, dass sein Handy auch hellseherische Qualit\u00e4ten besitzt. Es sieht in die Zukunft fremder Menschen und prophezeit ihnen Gl\u00fcck oder Ungl\u00fcck, manches Mal liegt beides nahe beieinander. Wie bei Wunderlich selbst. Und so beschlie\u00dft er, bedr\u00fcckt von seinem eigenen Elend und der traurigen Zukunft Fremder, nach Norden zu fahren. Ans Meer. Vielleicht leert ihm das den Kopf, vielleicht begreift er dann, wie es ohne Marie weitergeht. Und Wunderlich tut noch etwas: er plant nicht.<\/p>\n

Auf seiner Reise begegnen ihm ganz besondere Gestalten. Finke, der freundliche, aber etwas verwahrloste Mann, dem er auf einem Bahnhof begegnet, in dem eigentlich l\u00e4ngst kein Zug mehr h\u00e4lt. Toni, mit dem Sonnenbrillenmuttermal hinter dem Ohr. Dem sch\u00f6nen Ringo hinter seiner Theke, der roten Rita in ihrer winzigen Wohnung. Sie alle haben viel erlebt und stehen immernoch, sie alle lehren Wunderlich auf ihre Weise, dass das Leben mehr ist als ein durchdachtes Konzept. Immer wieder unterbrochen freilich von den Kommentaren Anonyms, der sich hier und da verstohlen ins Geschehen mischt. Doch dann verschwindet Finke auf einmal spurlos und w\u00e4hrend seiner Suche w\u00e4chst Wunderlich – oder “Hutmann”, wie er von Toni liebevoll genannt wird – \u00fcber sich hinaus.<\/p>\n

\n

“Alle guten Dinge haben etwas L\u00e4ssiges und liegen wie K\u00fche auf der Wiese”, sagte Wunderlich.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Marion Brasch beschreibt mit ihrem Wunderlich einen Menschen, der im Leben seinen Platz verloren glaubt und durch eine Reise nicht nur einen Platz wieder -, sondern auch sich selbst neu erfindet. Ein klassisches Roadmovie, ein Selbstfindungstrip der besonderen Art. Denn vieles, was Wunderlich auf seiner Reise erlebt, scheint m\u00e4rchenhaft, mindestens aber unerkl\u00e4rlich zu sein. Es findet einfach statt und der Leser muss es glauben. Ein hellseherisches Handy, verlassene Bahnh\u00f6fe, verschwundene Menschen, ein blau leuchtendes Harz, das Verletzungen um den Preis von Erinnerungen heilt – Marion Brasch spart nicht mit diesen magischen Elementen. Das verleiht einerseits zwar der Geschichte einen besonderen Schimmer, l\u00e4sst den Leser aber letztlich auch ahnungslos zur\u00fcck. Denn Erkl\u00e4rungen f\u00fcr all diese eigenartigen Ph\u00e4nomene gibt es nicht.<\/p>\n

\n

Drei Tage nach seiner Ankunft sa\u00df er am selben Bahnhof, auf derselben Bank, und auch die Bahnhofsuhr zeigte noch immer dieselbe Zeit. Nur er war nicht mehr ganz derselbe.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Man kann das als st\u00f6rend empfinden oder als der Wahrheit letzter Schluss: Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Es gibt keine anderen. Das Leben ist wie es ist, st\u00fcrz’ dich hinein und lebe, auch wenn du es nicht immer verstehen kannst. Wie auch immer man die mysteri\u00f6sen Begebenheiten nun deuten will, denen Wunderlich sich gegen\u00fcbersieht; Marion Brasch hat nach einem eher autobiographisch inspirierten Roman (,Ab jetzt ist Ruhe<\/a>‘) eine unterhaltsame und charmante Geschichte \u00fcber das Leben geschrieben, die mit all ihren skurillen Figuren auch dann noch Spa\u00df machen kann, wenn manche Dinge einfach ungekl\u00e4rt im Raum verbleiben. Man muss sich hineinst\u00fcrzen k\u00f6nnen in diese Geschichte, mit Haut und Haar und Fantasie. Ein bisschen wie im echten Leben eben. Aber auch nur ein bisschen.<\/p>\n

Marion Brasch: Wunderlich f\u00e4hrt nach Norden, Fischer Verlag<\/a>, 285 Seiten, 9783100013682<\/span>, 19,99 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Irgendwann kommt in jedem Leben der Moment, in dem Ver\u00e4nderung unerl\u00e4sslich, das bisherige Dasein zu eng geworden ist. Zeichenlehrer Wunderlich trifft es ganz klassisch am Ende einer Beziehung, die ihm Halt und Boden war. Er beschlie\u00dft, nach Norden zu fahren und wird auf dem Weg dorthin – fast mag man es ein Wunder nennen – ein ganz neuer Wunderlich. Wunderlich hat sich in seinem Leben eingerichtet. Er mag keine Ver\u00e4nderungen und plant rigoros, um nichts dem Zufall zu \u00fcberlassen. Doch dann trennt seine Freundin Marie sich von ihm. Unm\u00f6glich, so etwas zu planen. Es passiert einfach und bringt Wunderlich v\u00f6llig aus dem Gleichgewicht. Als ob das allein nicht schon genug w\u00e4re, beginnt pl\u00f6tzlich sein Handy mit ihm zu kommunizieren. Ein gewisser (oder eine gewisse?) Anonym schickt Wunderlich mysteri\u00f6se Nachrichten und es beginnt mit: “Guck nach vorn.” Wunderlich war der ungl\u00fccklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das f\u00fcr eine Rolle, wenn das Ungl\u00fcck gr\u00f6\u00dfer ist als man selbst. Das kann nun auf vielerlei Arten, sinnbildlich oder wortw\u00f6rtlich, verstanden …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":6233,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[1090,1666,1667],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2014\/08\/brasch.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6232"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=6232"}],"version-history":[{"count":7,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6232\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":7876,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6232\/revisions\/7876"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/6233"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=6232"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=6232"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=6232"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}