{"id":4942,"date":"2014-05-23T12:50:36","date_gmt":"2014-05-23T10:50:36","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=4942"},"modified":"2015-02-26T22:36:22","modified_gmt":"2015-02-26T20:36:22","slug":"manuel-niedermeier-durch-fruhen-morgennebel","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/05\/manuel-niedermeier-durch-fruhen-morgennebel\/","title":{"rendered":"Manuel Niedermeier – Durch fr\u00fchen Morgennebel"},"content":{"rendered":"

Zwei junge M\u00e4nner lernen sich an Bord eines Forschungsschiffes kennen. Der eine Fotograf, der andere Biologe. Der eine unter allen Umst\u00e4nden in seine Fotografie vernarrt, der andere stetig taumelnd am Rande eines Abgrunds. Es ist ein eisschollenhaftes Treiben durch die Nordostpassage, geradewegs in die Katastrophe hinein, die das Zentrum dieses Deb\u00fctromans bildet.<\/strong><\/p>\n

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Ein Bild ist der Aggregatwechsel eines Moments.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Clemens ist Fotograf. Gemeinsam mit Meteorologen, Biologen und Seeleuten ist er auf dem Weg nach Wrangler Island, einer kleinen Insel im Arktischen Ozean, nahe Sibirien. Er will fotografieren, den Moment herausl\u00f6sen aus der flie\u00dfenden Zeit, ihn konservieren und retten vor der Verg\u00e4nglichkeit. An Bord trifft er auf John, einen Biologen, der sich studienbedingt mit dem Kommunikationsverhalten von Belugawalen besch\u00e4ftigt. Die Population soll vor Wrangler Island besonders hoch sein, deshalb nimmt er an dieser sechsmonatigen Expedition teil. Schnell bemerkt Clemens die Instabilit\u00e4t seines Kabinengenossen. Er schl\u00e4ft nur wenige Stunden in der Nacht, w\u00e4lzt sich im Bett herum, spricht im Schlaf in fremder Sprache, schreckt schreiend hoch.<\/p>\n

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Rollender Seegang beizte das Polarmeer grau. Kein Unterschied mehr zwischen Himmel und Ozean, kein Anhaltspunkt, wo der eine begann, der andere endete. Und \u00fcberall Schneeflocken, wei\u00dfes Flimmern.Es roch nach Salz, nach K\u00e4lte.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Parallel zu der voranschreitenden Expedition, die zusehends vom langsam zufrierenden Meer bedroht wird, erfahren wir in der R\u00fcckschau mehr von Johns D\u00e4monen, die ihn in der Verlassenheit der Arktis bedrohen. Seine Freundin Laura, die er auf einem Konzert kennenlernt, ihre beginnende Aff\u00e4re, die Entfremdung von ihrem Freund Philipp, den sie ohnehin nur mehr an Wochenenden sieht. Wochenenden, an denen er wie besessen an Drehb\u00fcchern schreibt, die er danach vernichtet, v\u00f6llig versunken und verloren in einer alternativen Wirklichkeit. Eines Abends dann, als sie mit John ihre Wohnung betritt, kommt es zur Eskalation – wenn die auch bei Manuel Niedermeier immernoch merkw\u00fcrdig beil\u00e4ufig daherkommt.<\/p>\n

W\u00e4hrend das Forschungsschiff immer tiefer in vereistes Gel\u00e4nde vordringt, versucht Clemens, seinem Freund dessen Geheimnis zu entlocken, ihn zum Reden zu bringen, irgendwann zwischen zwei Zigaretten, die er unaufh\u00f6rlich raucht. Und eines Abends, das Schiff sucht gerade einen Weg aus dichtem Eis, bekommt John einen Brief von Laura – und geht, vor Clemens’ Augen, \u00fcber Bord. Statt ihn zu retten – oder wenigstens den Versuch zu unternehmen – z\u00fcckt er seine Kamera und bannt Johns letzten Moment auf Film. Der letzte Moment, bevor John von der Str\u00f6mung erfasst und unter das Eis gezogen wird.<\/p>\n

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Ich habe gesehen, wie er f\u00e4llt, ganz langsam. Sein K\u00f6rper kippte \u00fcber die Reling. Ich m\u00fcsste nur drei Schritte nach vorne machen und ihn festhalten … Doch ich schaue ihm eine Ewigkeit zu.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Sowohl Clemens als auch John werden – bedingt durch ihre Leidenschaften – jeweils Schuldige in einer Trag\u00f6die. Ob sie tats\u00e4chlich anders gekonnt h\u00e4tten, ob sie tats\u00e4chlich schuldig sind oder nur unweigerlich beteiligt an der schicksalhaften Entscheidung eines anderen, bleibt offen und zu diskutieren. Manuel Niedermeiers Prosa ist dicht, so komprimiert wie die Eisbl\u00f6cke, die fortw\u00e4hrend den Bug des Schiffes rammen. Manchmal fast auf Stichs\u00e4tze verk\u00fcrzt, verzichtet diese Sprache auf jede Verzierung, – sie ist k\u00fchl und direkt. Passend zur Umgebung.<\/p>\n

Nichtsdestotrotz h\u00e4tte ein bisschen Beiwerk diesem Deb\u00fctroman gut getan. Hin und wieder mangelt es an Hintergrundinformation, weshalb John im Traum immer wieder etwas auf Lakota – einem Sioux-Dialekt – murmelt, bleibt weitgehend ungekl\u00e4rt, genauso wie Johns “Unfall” oder gar seine bewusste Entscheidung, wie auch Clemens’ Unt\u00e4tigkeit. Wenig erf\u00e4hrt der Leser \u00fcberhaupt von ihm und seinem Charakter, abgesehen von seiner Begeisterung f\u00fcr Fotografie. ,Durch fr\u00fchen Morgennebel<\/em>‘ zeigt gute inhaltliche und stilistische Ans\u00e4tze, besticht durch atmosph\u00e4rische Beschreibungen, die den Leser teilhaben lassen an dieser besonderen Arktis-Expedition. Insgesamt l\u00e4sst der Roman aber leider zu viel unversucht und unausgesprochen, um wahrhaft \u00fcberzeugend zu sein.<\/p>\n

Manuel Niedermeier: Durch fr\u00fchen Morgennebel, C.H. Beck Verlag<\/a>, 219 Seiten, 9783406659546<\/span>, 18,95 \u20ac<\/span><\/p>\n

Eine Rezension gibt es auch auf ,Lesen macht gl\u00fccklich<\/a>‘.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Zwei junge M\u00e4nner lernen sich an Bord eines Forschungsschiffes kennen. Der eine Fotograf, der andere Biologe. Der eine unter allen Umst\u00e4nden in seine Fotografie vernarrt, der andere stetig taumelnd am Rande eines Abgrunds. Es ist ein eisschollenhaftes Treiben durch die Nordostpassage, geradewegs in die Katastrophe hinein, die das Zentrum dieses Deb\u00fctromans bildet. Ein Bild ist der Aggregatwechsel eines Moments. Clemens ist Fotograf. Gemeinsam mit Meteorologen, Biologen und Seeleuten ist er auf dem Weg nach Wrangler Island, einer kleinen Insel im Arktischen Ozean, nahe Sibirien. Er will fotografieren, den Moment herausl\u00f6sen aus der flie\u00dfenden Zeit, ihn konservieren und retten vor der Verg\u00e4nglichkeit. An Bord trifft er auf John, einen Biologen, der sich studienbedingt mit dem Kommunikationsverhalten von Belugawalen besch\u00e4ftigt. Die Population soll vor Wrangler Island besonders hoch sein, deshalb nimmt er an dieser sechsmonatigen Expedition teil. Schnell bemerkt Clemens die Instabilit\u00e4t seines Kabinengenossen. Er schl\u00e4ft nur wenige Stunden in der Nacht, w\u00e4lzt sich im Bett herum, spricht im Schlaf in fremder Sprache, schreckt schreiend hoch. Rollender Seegang beizte das Polarmeer grau. Kein Unterschied mehr zwischen Himmel …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":4943,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[976,1047,1321],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2014\/05\/niedermeier-e1405078486445.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4942"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=4942"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4942\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":7890,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4942\/revisions\/7890"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/4943"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=4942"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=4942"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=4942"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}