{"id":4566,"date":"2014-03-21T23:09:26","date_gmt":"2014-03-21T22:09:26","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=4566"},"modified":"2015-02-26T22:48:00","modified_gmt":"2015-02-26T20:48:00","slug":"jean-echenoz-14","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/03\/jean-echenoz-14\/","title":{"rendered":"Jean Echenoz – 14"},"content":{"rendered":"

Jean Echenoz<\/a> ist ein franz\u00f6sischer Autor. Er studierte Soziologie und Bauwesen und wurde einem gr\u00f6\u00dferen Publikum mit seinem Roman ,Ich gehe jetzt<\/em>‘ bekannt, f\u00fcr den er 1999 den Prix Goncourt erhielt. Er erz\u00e4hlt von einem Mann, der aus Lebens\u00fcberdruss entscheidet, seine Frau zu verlassen und, ganz dem klassischen Abenteuerroman gem\u00e4\u00df, das Besondere zu suchen. ,14’ erscheint, zum Gedenkjahr 2014, in der \u00dcbersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Hanser Verlag<\/a>.<\/p>\n

Viel wurde geschrieben \u00fcber den Ersten Weltkrieg, gerade in diesem Jahr dr\u00e4ngen viele Neuerscheinungen auf den Markt, die neue Perspektiven auf diese Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts er\u00f6ffnen sollen. Vowiegend im Sachbuchbereich zwar, aber auch in der Belletristik l\u00e4sst sich die ein oder andere Entdeckung machen, wie hier vorliegendes schmales B\u00e4ndchen Erz\u00e4hlkunst eindr\u00fccklich unter Beweis stellt.<\/p>\n

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Da das Wetter sich ganz ausgezeichnet daf\u00fcr eignete und es Samstag war, ein Tag, an dem seine T\u00e4tigkeit ihm erlaubte, nicht arbeiten zu m\u00fcssen, war Anthime nach dem Mittagessen zu einer Radtour aufgebrochen. Seine Pl\u00e4ne: die pralle Augustsonne genie\u00dfen, sich ein wenig ert\u00fcchtigen und die Landluft tief einatmen, wahrscheinlich auch, im Gras liegend, lesen, denn er hatte an seinem Fahrzeug mit einem Gummispanner ein Buch befestigt, das f\u00fcr den Drahtgep\u00e4cktr\u00e4ger zu volumin\u00f6s war.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Es ist der Sommer 1914, der Tag der Mobilmachung, die durch laut ert\u00f6nendes Glockengeheul unmissverst\u00e4ndlich verk\u00fcndet wird. Man hatte damit gerechnet, wenn man sie auch nicht so schnell erwartete. Anthime und sein Bruder Charles sowie deren Kaffeehausfreunde Arcenel, Padioleau und Bossis werden z\u00fcgig einberufen und in die Ardennen an die Front geschickt. Die Stimmung ist gut und man rechnet mit einer schnellen Heimkehr, sp\u00e4testens Weihnachten. Das Bewusstsein f\u00fcr das Folgende wird \u00fcberschattet von einer mehr oder weniger gro\u00dfen, durch Patriotismus gespeisten Begeisterung, der Krieg, wie er tats\u00e4chlich ist, \u00fcbersteigt alle Vorstellungskraft der jungen M\u00e4nner.<\/p>\n

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H\u00fcte, Schals, Blumenstr\u00e4u\u00dfe und Taschent\u00fccher wurden in alle Richtungen gewedelt, K\u00f6rbe mit Wegzehrung durch die Fenster gereicht, man dr\u00fcckte kleine Kinder und Greise, Paare umarmten einander, Tr\u00e4nen platschten auf die Trittbretter – wie man es heute auf dem gro\u00dfen Fresko von Albert Herter im Elsass-Saal der Gare de l’Est sehen kann.<\/p>\n<\/blockquote>\n

\"SONY<\/a>

Le D\u00e9part des poilus, ao\u00fbt 1914 (1926), Albert Herter<\/p><\/div>\n

Jean Echenoz zeichnet nun im Folgenden, brilliant verknappt und in schn\u00f6rkelloser Sprache, die Erlebnisse der f\u00fcnf M\u00e4nner nach, an denen der Leser exemplarisch die Gr\u00e4uel des Krieges erlebt. Was beschwingt und hochmotiviert begann, wird zu einem zerm\u00fcrbenden Stellungskrieg, der letztlich drei der f\u00fcnf M\u00e4nner auf ganz unterschiedliche Weise das Leben kostet. So st\u00fcrzt Charles, dessen schwangere Frau Blanche zuhause seiner baldigen R\u00fcckkehr harrt, schon kurz nach der Ankunft mit einem Beobachterflugzeug ab. Bossis stirbt durch Granatfeuer im Sch\u00fctzengraben. Arcenel, der sich seinerseits nach einer Typhusimpfung nur die Beine vertreten will, wird als Deserteur zum Tode verurteilt und erschossen.<\/p>\n

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Alles riecht ungel\u00fcftet, sogar man selbst und auch noch in sich, in seinem eigenen Inneren, hinter den Stacheldrahtverhauen, an denen sich zersetzende und zerfallende Leichname aufgehakt sind und an denen die Pioniere manchmal die Dr\u00e4hte ihrer Funkger\u00e4te befestigen – keine leichte Aufgabe f\u00fcr sie, die Pioniere schwitzen vor Ersch\u00f6pfung und Angst, ziehen ihren Mantel aus, um bequemer arbeiten zu k\u00f6nnen, h\u00e4ngen ihn \u00fcber einen Arm, der aus der umgepfl\u00fcgten Erde ragt und ihnen als Kleiderst\u00e4nder dient.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Echenoz spart nicht mit grausigen Details, so wie einst schon Remarque, ohne sich jedoch in voyeuristischer Manier lange daran aufzuhalten. Vielmehr sind es in ihrer K\u00fcrze eindr\u00fcckliche Moment – und Bestandsaufnahmen, die in ihrer Allgemeing\u00fcltigkeit ein n\u00fcchternes Bild des Krieges zeichnen. Entmenschlichung, den Verlust aller Kultur, einzig zur\u00fcckgeworfen auf den archaischen Kampf um’s \u00dcberleben. Die M\u00e4nner fallen in mancher Schlacht wie die Fliegen, die Fliegen wiederum ern\u00e4hren sich von den Gefallenen. Auf 124 Seiten finden sich vier Jahre Krieg komprimiert, gespiegelt in f\u00fcnf Schicksalen und einer zur\u00fcckgebliebenen Frau.<\/p>\n

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Nun entgeht man dem Krieg nicht einfach so. Die Lage ist simpel, man sitzt fest: Vor’n der Feind, hier Ratten und Fl\u00f6he, hinter einem die Feldgendarmerie. Die einzige L\u00f6sung besteht darin, untauglich zu werden, also wartet man mangels besserer M\u00f6glichkeiten auf eine passende Verwundung, ja ersehnt sie irgendwann, denn sie verschafft einem den Passierschein in die Heimat (siehe Anthime), nur ist das Problem eben, dass sie nicht von einem selbst abh\u00e4ngt. Manche versuchen folglich, sich diese hochwillkommene Verwundung unauff\u00e4llig selbst zuzuf\u00fcgen, zum Beispiel, indem sie sich in die Hand schossen, aber meist funktionierte das nicht: Sie wurden \u00fcberf\u00fchrt, verurteilt und wegen Hochverrats erschossen.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Anthime verliert im Gefecht seinen rechten Arm, den er selbst Monate nach der R\u00fcckkehr noch immer so sp\u00fcrt als s\u00e4\u00dfe er dort, wo er immer war. Padioleau, durch einen Giftgasangriff erblindet, vermag sich mit seiner Versehrung, die ihm jede fr\u00fcher gern verrichtete T\u00e4tigkeit versagt, kaum zu arrangieren. Nun darf und kann man zu Recht die Frage stellen, was Echenoz’ Roman eklatant von anderen seiner Art unterscheidet. Welchen neuen und besonderen Ansatzpunkt er im Erinnern an den Ersten Weltkrieg liefert. Seine St\u00e4rke liegt unbestritten in der absoluten Verknappung, dem Herunterbrechen auf einzelne, f\u00fcr sich stehende Szenen und Erlebnisse. Keine stilistischen Schn\u00f6rkel, kein \u00fcberfl\u00fcssiger Satz, kaum ein Wort \u00fcber das Notwendige hinaus. So entwickelt der Roman eine Kraft, die ihn von anderen, weit ausschweifenderen Artgenossen wohltuend abhebt. Mehr gibt es nicht zu sagen, genug ist gesagt worden. Blo\u00df selten in einer so ersch\u00fctternden Klarheit und Sch\u00e4rfe.<\/p>\n

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Jean Echenoz ist ein franz\u00f6sischer Autor. Er studierte Soziologie und Bauwesen und wurde einem gr\u00f6\u00dferen Publikum mit seinem Roman ,Ich gehe jetzt‘ bekannt, f\u00fcr den er 1999 den Prix Goncourt erhielt. Er erz\u00e4hlt von einem Mann, der aus Lebens\u00fcberdruss entscheidet, seine Frau zu verlassen und, ganz dem klassischen Abenteuerroman gem\u00e4\u00df, das Besondere zu suchen. ,14’ erscheint, zum Gedenkjahr 2014, in der \u00dcbersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Hanser Verlag. Viel wurde geschrieben \u00fcber den Ersten Weltkrieg, gerade in diesem Jahr dr\u00e4ngen viele Neuerscheinungen auf den Markt, die neue Perspektiven auf diese Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts er\u00f6ffnen sollen. Vowiegend im Sachbuchbereich zwar, aber auch in der Belletristik l\u00e4sst sich die ein oder andere Entdeckung machen, wie hier vorliegendes schmales B\u00e4ndchen Erz\u00e4hlkunst eindr\u00fccklich unter Beweis stellt. Da das Wetter sich ganz ausgezeichnet daf\u00fcr eignete und es Samstag war, ein Tag, an dem seine T\u00e4tigkeit ihm erlaubte, nicht arbeiten zu m\u00fcssen, war Anthime nach dem Mittagessen zu einer Radtour aufgebrochen. Seine Pl\u00e4ne: die pralle Augustsonne genie\u00dfen, sich ein wenig ert\u00fcchtigen und die Landluft tief einatmen, wahrscheinlich auch, im Gras liegend, …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":4567,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[846,1071,1149,1200],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2014\/03\/echenoz.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4566"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=4566"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4566\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":5970,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4566\/revisions\/5970"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/4567"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=4566"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=4566"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=4566"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}