{"id":4519,"date":"2014-03-17T20:56:11","date_gmt":"2014-03-17T19:56:11","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=4519"},"modified":"2015-02-26T22:49:33","modified_gmt":"2015-02-26T20:49:33","slug":"sasa-stanisic-vor-dem-fest","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/03\/sasa-stanisic-vor-dem-fest\/","title":{"rendered":"Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107 – Vor dem Fest"},"content":{"rendered":"

Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107<\/a> ist ein aus Bosnien-Herzegowina stammender Autor. 1992 fl\u00fcchtete er mit seinen Eltern vor der Belagerung seiner Heimatstadt durch serbische Truppen S\u00fcddeutschland. Neben seinem Studium ver\u00f6ffentlichte er bereits Essays und Erz\u00e4hlungen in zahlreichen Literaturzeitschriften (wie Krachkultur<\/a> und EDIT<\/a>), 2004 begann er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu studieren, im Jahr darauf war er beim Ingeborg-Bachmann-Preis vertreten. 2006 folgte sein vielfach ausgezeichnetes und hochgelobtes Deb\u00fct ,Wie der Soldat das Grammophon repariert<\/em>‘, das bereits als H\u00f6rspiel und B\u00fchnenst\u00fcck adaptiert wurde. ,Vor dem Fest<\/em>‘ ist\u00a0Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107s zweiter Roman, erscheint im Luchterhand Verlag<\/a> und erhielt gerade den Preis der Leipziger Buchmesse<\/a>.<\/p>\n

,Letzte Ausfahrt Uckermark<\/em><\/a>‘ titelte erst k\u00fcrzlich noch die ZEIT, als Maxim Biller seinen Unmut \u00fcber die deutsche Gegenwartsliteratur und ihren eklatanten, ja, ach so sp\u00fcrbaren Mangel migrantischer Stimmen kundtat. Ja, \u00fcberhaupt verst\u00fcnde Stani\u0161i\u0107 ja gar nichts von der ostdeutschen Provinz und sei nun, nach seinem grandiosen Deb\u00fct, vom Literaturbetrieb quasi konformgeb\u00fcgelt worden. Uckermark. Unsinn. Uckermarkunsinn. Nun w\u00fcrden eigentlich schon die ersten S\u00e4tze von ,Vor dem Fest<\/em>‘ Herrn Biller L\u00fcgen strafen. Dieser Roman ist nicht nur inhaltlich ein Fest, sondern auch sprachlich, ein Genuss, ein modernes M\u00e4rchen \u00fcber Herkunft und Vergangenheit, \u00fcber Geschichte und ihre Pr\u00e4senz in der Gegenwart. Daf\u00fcr bedarf es keiner wasserdichten und profunden Kenntnisse \u00fcber die Uckermark. Die k\u00f6nnte auch woanders sein.<\/p>\n

\"stanisic\"<\/a><\/p>\n

Der Roman spielt in der Nacht vor dem Fest, von dem die Dorfgemeinschaft eigentlich auch gar nicht genau wei\u00df, warum sie es feiert. F\u00fcrstenfelde, so hei\u00dft das kleine uckerm\u00e4rkische Nest, fiebert dem n\u00e4chsten Tag entgegen, jeder auf seine Weise. Frau Kranz steht mit ihrer Staffelei in einem der beiden Seen und versucht,im peitschenden Regen ein neues Gem\u00e4lde zu erdenken, das am n\u00e4chsten Tag festlich versteigert werden kann. Herr Schramm versucht, Selbstmord zu begehen und f\u00e4hrt letztendlich mit einer alten, ausgedienten Landmaschine Zigaretten holen. Er ist, wie Stani\u0161i\u0107 schreibt, ein Mann ohne Haltung, aber mit Haltungsschaden. Frau Schwermuth indessen, Betreuerin des d\u00f6rflichen “Heimatmuseums”, macht ihrem Namen alle Ehre. Ihr Sohn Johann findet Worte.<\/p>\n

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Meine Mu wiegt doppelt so viel wie mein Pa. Sie wiegt 130 Kilo. Im Fr\u00fchling kommen 30 Kilo schwere Gedanken dazu (Sorgen, \u00c4ngste, Scham, generelle Lustlosigkeit). Dann legt sich meine 160-Kilo-Mu in die Narzissen im Garten, weil im Liegen die dunklen Wolken circa hundertsechzig Zentimeter weiter weg sind. Ihre Augen sind zu, wir sollen sie in Ruhe lassen. Da kann man nichts machen, als Ehemann, als Sohn, als Narzisse nicht. Wir kriegen 160-Kilo-Mu nicht auf die Beine, wenn sie das nicht will, wir kriegen sie nicht froh, wenn sie das nicht sein kann.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Im Dorfk\u00f6rper regen sich allerlei Geschichten, die das Dorf seit Jahrhunderten geformt haben, Sagen, M\u00e4rchen von furchtbaren Br\u00e4nden, grausigen Krankheiten, Riesen und einem unsichtbaren Kesselflicker. Um die Geschehnisse herum streunt eine F\u00e4he auf der Suche nach Nahrung f\u00fcr ihre Welpen, vorsichtig, immer auf der Hut. Ihr Einbruch in den H\u00fchnerstall findet ein j\u00e4hes Ende.<\/p>\n

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Im Kiecker, dem alten Wald, mei\u00dfelt der Specht die Millisekunden unserer Sterblichkeit ab.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107 ist ein meisterhafter, ein fantastischer Erz\u00e4hler, der schon mit den ersten Worten seines Romans eine T\u00fcr aufst\u00f6\u00dft, die zu durchschreiten man einfach nicht verweigern kann. Wir sind traurig. Wir haben keinen F\u00e4hrmann mehr. Der F\u00e4hrmann ist tot<\/em>, hei\u00dft es da. Und wer d\u00e4chte bei F\u00e4hrm\u00e4nnern nicht an uralte Geschichten und Legenden? Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107s Dorf lebt, als Ganzes und in seinen einzelnen Facetten. Manchmal sieht man F\u00fcrstenfelde wie ein menschliches und historisches Kaleidoskop durch die schmalen Dorfstra\u00dfen wandeln, dann zerf\u00e4llt es wieder in seine Bewohner.<\/p>\n

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In seinem eigenen Haushalt, denkt Herr Schramm, finden sich im Schnitt mehr Entt\u00e4uschungen \u00fcber ihn selbst als \u00fcber die Welt.<\/p>\n<\/blockquote>\n

,Vor dem Fest’<\/em> erinnert in seiner Verschlungenheit und fast magischen Art, Zeiten miteinander zu verbinden, an die Kraft des Vergangenen. So vermag ein altes verfallenes Haus doch in vielen F\u00e4llen eine wesentlich st\u00e4rkere Faszination auszu\u00fcben als ein makelloser Neubau, eben weil das Verfallene, das Verlebte in sich mehr Geschichte tr\u00e4gt als das j\u00fcngst in die Welt Geworfene. So auch F\u00fcrstenfelde, das durch seine langj\u00e4hrige Stadtgeschichte beinahe zu vibrieren scheint in dieser Nacht. Angesichts des Fests, aber auch angesichts seiner Urspr\u00fcnge.<\/p>\n

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Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein k\u00f6nnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Es ist ein Lesefest. Ein Sprachfest. Ein Dorffest. Ein Fest der Gegenwart und der Vergangenheit. Mit einem feinsinnigen Humor, pointierten S\u00e4tzen und griffigen Wendungen schafft Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107 eine unnachahmliche Atmosph\u00e4re, die selbst nach dem Zuklappen der Buchdeckel noch anh\u00e4lt. So ein Roman ist das. Der einen ganz und gar verzaubert und irgendwie ver\u00e4ndert zur\u00fcckl\u00e4sst. So ein Roman. Angeblich verspreche man sich in F\u00fcrstenfelde einen Anstieg des Tourismus. Tats\u00e4chlich m\u00f6chte man mal hinfahren und bei Ulli ein Bier trinken, Trost suchen, ,weil nach Mitternacht jeder Trost verdient<\/em>.’ Ein absolutes Lese-Muss dieses Fr\u00fchjahr!<\/p>\n

M\u00fcsste es einen Soundtrack f\u00fcr dieses Buch geben – es g\u00e4be einen. Man denke sich einfach alternativ ,Gespr\u00e4che der F\u00e4hen’.<\/p>\n

[youtube http:\/\/www.youtube.com\/watch?v=9bTeeYbDgO4]<\/p>\n

Eine Rezension findet ihr ebenfalls im B\u00fccherwurmloch<\/a> und bei buzzaldrins B\u00fccher<\/a>.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107 ist ein aus Bosnien-Herzegowina stammender Autor. 1992 fl\u00fcchtete er mit seinen Eltern vor der Belagerung seiner Heimatstadt durch serbische Truppen S\u00fcddeutschland. Neben seinem Studium ver\u00f6ffentlichte er bereits Essays und Erz\u00e4hlungen in zahlreichen Literaturzeitschriften (wie Krachkultur und EDIT), 2004 begann er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu studieren, im Jahr darauf war er beim Ingeborg-Bachmann-Preis vertreten. 2006 folgte sein vielfach ausgezeichnetes und hochgelobtes Deb\u00fct ,Wie der Soldat das Grammophon repariert‘, das bereits als H\u00f6rspiel und B\u00fchnenst\u00fcck adaptiert wurde. ,Vor dem Fest‘ ist\u00a0Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107s zweiter Roman, erscheint im Luchterhand Verlag und erhielt gerade den Preis der Leipziger Buchmesse. ,Letzte Ausfahrt Uckermark‘ titelte erst k\u00fcrzlich noch die ZEIT, als Maxim Biller seinen Unmut \u00fcber die deutsche Gegenwartsliteratur und ihren eklatanten, ja, ach so sp\u00fcrbaren Mangel migrantischer Stimmen kundtat. Ja, \u00fcberhaupt verst\u00fcnde Stani\u0161i\u0107 ja gar nichts von der ostdeutschen Provinz und sei nun, nach seinem grandiosen Deb\u00fct, vom Literaturbetrieb quasi konformgeb\u00fcgelt worden. Uckermark. Unsinn. Uckermarkunsinn. Nun w\u00fcrden eigentlich schon die ersten S\u00e4tze von ,Vor dem Fest‘ Herrn Biller L\u00fcgen strafen. Dieser Roman ist nicht nur inhaltlich ein Fest, …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":4520,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[1307,1426,1472,1594],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2014\/03\/sasastanisic.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4519"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=4519"}],"version-history":[{"count":4,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4519\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6467,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4519\/revisions\/6467"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/4520"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=4519"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=4519"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=4519"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}