{"id":4438,"date":"2014-03-08T15:40:21","date_gmt":"2014-03-08T14:40:21","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=4438"},"modified":"2015-02-26T22:56:05","modified_gmt":"2015-02-26T20:56:05","slug":"ulrike-draesner-sieben-sprunge-vom-rand-der-welt","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/03\/ulrike-draesner-sieben-sprunge-vom-rand-der-welt\/","title":{"rendered":"Ulrike Draesner – Sieben Spr\u00fcnge vom Rand der Welt"},"content":{"rendered":"

Ulrike Draesner<\/a> ist eine deutsche Autorin. In M\u00fcnchen aufgewachsen studierte sie Rechtswissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie an verschiedenen Universit\u00e4ten im In – und Ausland. Seit 1994 lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin und ver\u00f6ffentlicht au\u00dfer Prosatexten und Essays auch Lyrik. Sie wirkt gemeinsam mit bildenden K\u00fcnstlern auch an intermedialen Projekten mit. ,Sieben Spr\u00fcnge vom Rand der Welt<\/em>‘, ein Roman \u00fcber Vertreibung und das Schwelen von Erinnerung unter der Oberfl\u00e4che, erscheint im Luchterhand Verlag<\/a>.<\/p>\n

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Vater, gl\u00fccklicher Raum, schlurft durchs Institut. Hose, Lederjacke, Seminar. Seine alte Gartenjacke. Wie er aussieht, ist ihm egal. Der Rundr\u00fccken, die Hosentr\u00e4ger, die Karl-Valentin-Beine. Verr\u00fcckt war er schon immer, auf seine Weise: exakt, k\u00fchl, kalkuliert.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Eustachius Grolman, Verhaltensforscher und zweiundachtzigdreiviertel Jahre, ist ein renommierter Wissenschaftler. Seit Jahrzehnten forscht er mit Affen, vorzugsweise Schimpansen und Bonobos. Wo andere versuchen, den Menschen im Affen zu entdecken, versucht er, den Affen im Menschen zu entlarven. Seine Lebensgeschichte gleicht der vieler anderer Kriegskinder. Der Vater k\u00e4mpft an der Front und Eustachius muss mit seiner Mutter und dem \u00e4lteren, behinderten Bruder Emil im Winter 1945 aus Breslau fliehen. Bei Minusgraden durch unebenes Gel\u00e4nde, hungernd, ver\u00e4ngstigt. Gesprochen wird in der Familie \u00fcber diese Erfahrungen wenig, trotzdem erw\u00e4chst aus dem Samen dieser Kriegstraumata St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck eine neue Generation heran, die, trotzdem der Krieg l\u00e4ngst Vergangenheit ist, noch immer unter seinen Ausl\u00e4ufern zu leiden hat.<\/p>\n

Hatte ich Kummer, sagte er: “Wie gut es dir geht.”
\nEr sagte: “Was ich erlebt habe, w\u00fcnsch ich dir nicht.”
\nIch f\u00fchlte: Er w\u00fcnschte es mir. Dann w\u00fcnschte er es mir wieder weg. Sonst h\u00e4tte ich gehabt, was er hatte: Das Gro\u00dfe-Schlimme mitten im Leben. Dann w\u00e4re ich so stark gewesen wie er. “St\u00e4rke”, sagte mein Vater, “F\u00fchllosigkeit, Erfolg” Darum gehe es. Allemal im Beruf.<\/p><\/blockquote>\n

Diese Stimme geh\u00f6rt Simone Grolman, 52, ebenfalls renommierte Verhaltensforscherin, Tochter von Eustachius, die ihren Vater und dessen Biographie zu begreifen versucht. Eustachius hat sich aus Entt\u00e4uschung und Fassungslosigkeit dar\u00fcber, wozu Menschen f\u00e4hig sind, den Affen zugewandt. Um sie kreist sein Leben, sie bilden seinen Lebensmittelpunkt und lassen den alten Mann Zehntausende f\u00fcr einen urwaldgetreuen Nachbau des Regenwaldes gleich neben seinem Haus ausgeben. F\u00fcr Eustachius, der mit seinen Affen sogar in eine Fernsehshow eingeladen wird, nachdem seine widerrechtliche Haltung der Tiere zur Anzeige gebracht worden ist, – sind sie, ohne Zweifel, die besseren Menschen.<\/p>\n

\"w\u00f6rter\"<\/a><\/p>\n

Wie wirken sich (Kriegs)traumatisierungen auf die Folgegenerationen aus? Wie werden Erinnerungen und \u00c4ngste von Generation zu Generation weitergetragen, ohne dass es dazu noch eine Entsprechung in der Realit\u00e4t g\u00e4be? Ulrike Draesner sp\u00fcrt mithilfe der Stimmen von vier Generationen (und sieben ,Hauptpersonen’) dieser Frage nach. Sowohl Eustachius als auch dessen Eltern, sowohl Simone Grolmann als auch der konsultierte Psychologe, dessen Vertreibungsgeschichte zwar eine andere als die der Grolmans, in ihren Auswirkungen aber doch eine \u00e4hnliche ist, kommen zu Wort. Auch die Kinder der Kinder, f\u00fcr die der Krieg allenfalls noch eine schwarzwei\u00df-k\u00f6rnige Dokumentation im Fernsehen ist. Sie alle sind auf die ein oder andere Weise mit diesen ,Urkatastrophen’ des 20-Jahrhunderts verbunden, lange \u00fcber ihr Geschehen hinaus.<\/p>\n

\n

Hitlers Kinder, die 1945, anders als die Erwachsenen, die einzige Welt verloren, die sie kannten, seien nicht erzogen, sondern im w\u00f6rtlichen Sinne verzogen gewesen: an ihrer Psyche habe man gezogen. Ihnen den Rahmen verzogen, die Menschlichkeit.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Empathisch und behutsam begibt sich Draesner auf Spurensuche und legt dabei viele ,Bakterienherde’ frei, auf deren Basis das Erlebte sich virusartig in einer Familie ausbreitet. Sei es nun ein vorgelebtes und anerzogenes Ideal von St\u00e4rke, das einen Menschen zwar widerstandsf\u00e4hig, aber bedauerlich hart und k\u00fchl macht oder die \u00dcbertragung von \u00c4ngsten, die im Krieg, angesichts von Tod und Verderben entstanden sind – jeder wird in seiner Familie etwas davon finden. Und wenn es nur das Schweigen ist. Wenn es nur bedeutet, dass Opa immer den Teller leer isst, weil er wei\u00df, was Hunger bedeutet. Dass er nichts wegwerfen kann, weil er wei\u00df, wie es sich anf\u00fchlt, alles zu verlieren.<\/p>\n

seit November
\nfielen Fl\u00fcchtlinge von den H\u00fcgeln in die Stadt als w\u00e4ren die
\nH\u00fcgel B\u00e4ume und alle Ostpreu\u00dfen
\nObst<\/p><\/blockquote>\n

Schilderungen aus der Gegenwart wechseln sich ab mit den Erinnerungen derer, die vetrieben wurden, die “verzogen” sind. Im Falle von Eustachius’ Vater Hannes sind es sogar zwei Kriege, die er schultert, die aus ihm einen v\u00f6llig anderen Menschen machen, sich selbst fremd in einer fremden Welt. Trotzdem man an der ein oder anderen Stelle dieses Romans h\u00e4tte k\u00fcrzen oder den Blick mehr auf das Aufwachsen der Kinder nach Ende des Krieges h\u00e4tte richten k\u00f6nnen, trotz einiger seltsamer Ideen wie Eustachius’ Apparatur, mit der er seine eigene Hirnt\u00e4tigkeit \u00fcberwacht, bleibt dieser Roman eine intensive Erfahrung, die unweigerlich eigene Erinnerungen herausbeschw\u00f6rt. Mit ihrer feinen und poetischen Sprache kann Ulrike Draesner Stimmungsnunancen einfangen und Bilder entstehen lassen,die nachwirken. Ihr Erz\u00e4hlen ist ein Appell an die eigene Geschichte.<\/p>\n

\n

Der Ort zerlegt mich, bis ich nicht mehr wei\u00df, wie ich meine erste und zweite Lebensh\u00e4lfte aneinanderh\u00e4ngen soll, wie mir meine schiefe Geschichte erz\u00e4hlen.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Auf www.der-siebte-sprung.de gibt Ulrike Draesner dar\u00fcber hinaus Einblick in ihre Recherchearbeit, ihre Gedanken zum Thema und die Motivation, die sie getrieben hat, ihre pers\u00f6nliche Familiengeschichte in fiktionalisierter Form aufzuarbeiten. F\u00fcr diese multimediale Begleitlekt\u00fcre zeichnet sich die Agentur imaginary friends<\/a> verantwortlich, die im Bereich des medien\u00fcbergreifenden Storytellings mit Verlagen und Autoren, aber auch anderen Kultureinrichtungen wie Museen neue Wege zu beschreiten versuchen.<\/p>\n

Weitere Besprechungen<\/strong><\/p>\n

54books<\/a><\/p>\n

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Ulrike Draesner ist eine deutsche Autorin. In M\u00fcnchen aufgewachsen studierte sie Rechtswissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie an verschiedenen Universit\u00e4ten im In – und Ausland. Seit 1994 lebt sie als freie Schriftstellerin in Berlin und ver\u00f6ffentlicht au\u00dfer Prosatexten und Essays auch Lyrik. Sie wirkt gemeinsam mit bildenden K\u00fcnstlern auch an intermedialen Projekten mit. ,Sieben Spr\u00fcnge vom Rand der Welt‘, ein Roman \u00fcber Vertreibung und das Schwelen von Erinnerung unter der Oberfl\u00e4che, erscheint im Luchterhand Verlag. Vater, gl\u00fccklicher Raum, schlurft durchs Institut. Hose, Lederjacke, Seminar. Seine alte Gartenjacke. Wie er aussieht, ist ihm egal. Der Rundr\u00fccken, die Hosentr\u00e4ger, die Karl-Valentin-Beine. Verr\u00fcckt war er schon immer, auf seine Weise: exakt, k\u00fchl, kalkuliert. Eustachius Grolman, Verhaltensforscher und zweiundachtzigdreiviertel Jahre, ist ein renommierter Wissenschaftler. Seit Jahrzehnten forscht er mit Affen, vorzugsweise Schimpansen und Bonobos. Wo andere versuchen, den Menschen im Affen zu entdecken, versucht er, den Affen im Menschen zu entlarven. Seine Lebensgeschichte gleicht der vieler anderer Kriegskinder. Der Vater k\u00e4mpft an der Front und Eustachius muss mit seiner Mutter und dem \u00e4lteren, behinderten Bruder Emil im Winter 1945 aus …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":4439,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[1079,1307,1498,1564,1587,1612],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2014\/03\/ulrike-draesner.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4438"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=4438"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4438\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":5980,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4438\/revisions\/5980"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/4439"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=4438"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=4438"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=4438"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}