{"id":436,"date":"2011-07-07T15:00:17","date_gmt":"2011-07-07T15:00:17","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=436"},"modified":"2015-02-21T17:26:39","modified_gmt":"2015-02-21T15:26:39","slug":"eugene-ionesco-die-nashorner","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2011\/07\/eugene-ionesco-die-nashorner\/","title":{"rendered":"Eug\u00e8ne Ionesco – Die Nash\u00f6rner"},"content":{"rendered":"

Eug\u00e8ne Ionesco<\/a> (1909-1994) war ein franz\u00f6sisch-rum\u00e4nischer Schriftsteller, der sich zum Surrealistischen und Absurden hingezogen f\u00fchlte. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter des absurden Theaters. Ionesco reagierte mit dem oben genannten St\u00fcck unter anderem auf den zusehends unreflektiert ausbrechenden Patriotismus und Rassismus, die in Frankreich zur Zeit des Algerienkrieges aufkamen. Ionesco erkl\u00e4rte sp\u00e4ter selbst, die vorliegende Geschichte sei eine Kritik an Massenbewegungen im Allgemeinen, die sich nicht auf bestimmte Ideologien bez\u00f6ge. In Deutschland hatte man die Auff\u00fchrung leichtfertig als Persiflage auf den Nationalsozialismus interpretiert.<\/p>\n

Ionesco beschreibt in seinem St\u00fcck die schrittweise Verwandlung einer ganzen Stadt in schnaubende und w\u00fctende Nash\u00f6rner. Es beginnt mit den Protagonisten Behringer und Hans, die an einem Sonntagnachmittag in einem Caf\u00e9 sitzen. Hans kritisiert den gelangweilten und etwas derangierten Behringer wegen seines Alkoholkonsums und versucht, ihn zu einerVer\u00e4nderung zu bewegen, als pl\u00f6tzlich ein Nashorn panisch \u00fcber den Marktplatz galoppiert. W\u00e4hrend die meisten anderen umstehenden Personen v\u00f6llig konsterniert sind und ihren Augen nicht trauen, scheint Behringer das ganze Spektakel recht wenig zu verwundern, im Gegenteil, er versucht sogar rationale Begr\u00fcndungen f\u00fcr die Situation zu finden. Das Nashorn k\u00f6nne beispielsweise aus einem Wanderzirkus ausgebrochen sein. Wenig sp\u00e4ter rast ein zweites Nashorn vorbei und zertrampelt das K\u00e4tzchen einer \u00e4lteren Frau.<\/p>\n

Der zweite Akt beginnt im B\u00fcro Behringers, wo bereits der Abteilungsleiter Schmetterling und einige Angestellte \u00fcber die Vorf\u00e4lle des letzten Tages diskutieren. Dabei sprechen sie nicht nur \u00fcber das Vorhandensein der Dickh\u00e4uter, was ein Angestellter namens Wisser vehement abstreitet, sondern auch \u00fcber die Rasse der Nash\u00f6rner, genau genommen, ob es sich um afrikanische oder indische handle und welche von beiden nun jeweils ein oder zwei H\u00f6rner habe. Etwas sp\u00e4ter trifft Behringer ein und kurz nach ihm Frau Ochs, die Frau eines anderen Mitarbeiters, der sich, wie sie zun\u00e4chst sagt, eine leichte Grippe eingefangen habe und deshalb nicht zur Arbeit erscheinen k\u00f6nne. Tats\u00e4chlich hat sich Herr Ochs aber in ein Nashorn verwandelt, was kurze Zeit sp\u00e4ter schnaubend die Treppe zum B\u00fcro zum Einsturz bringt. Frau Ochs erkennt, wodurch auch immer, in diesem tobenden Unpaarhufer ihren Mann, springt aus dem Fenster und wird selbst zum Nashorn. Wie im ganzen St\u00fcck blitzt auch hier mitunter Ironie hervor, die g\u00e4nzlich unpolitisch scheint.<\/p>\n

FRAU OCHS steht pl\u00f6tzlich auf<\/em>: Ich kann ihn so nicht lassen! Ich kann ihn so nicht lassen!<\/p>\n

SCHMETTERLING: Wenn Sie sich scheiden lassen wollen … jetzt haben Sie einen guten Grund.<\/p>\n

Die Mitarbeiter des Verlages f\u00fcr Rechtsliteratur verlassen das B\u00fcro mithilfe der Feuerwehr und stellen, aufgrund der absonderlichen Ereignisse in der Stadt, zun\u00e4chst ihre Arbeit ein. Behringer besucht unterdessen Hans, um sich f\u00fcr den Streit am letzten Tag zu entschuldigen, f\u00fcr den er sich verantwortlich f\u00fchlt. Er trifft Hans krank im Bett an, heiser und nerv\u00f6s. Vor Behringers Augen verwandelt Hans sich in ein Nashorn, so wie die meisten seiner Freunde und Kollegen im Laufe des St\u00fcckes. Einzig und allein er bleibt \u00fcbrig, wie zu Beginn als Au\u00dfenseiter, der sich nicht in die Gesellschaft integrieren will und kann.<\/p>\n

Ionescos St\u00fcck liefert gerade auch in der Charakteristik der Hauptpersonen viele Deutungsans\u00e4tze, die ich hier gar nicht alle vorwegnehmen kann und will. Freilich ist es ein absurdes St\u00fcck und wer mit solchen Geschichten schwer warm wird, dem wird es wohl auch mit den Nash\u00f6rnern so ergehen. Ich empfand die Herangehensweise an das Thema Ideologien, Totalitarismus und Massenbewegungen sehr interessant, weil sie nicht offensichtlich den moralischen Zeigefinger hebt, sondern eine Art Zerrspiegel \u00a0an alle verteilt. Gerade zur heutigen Zeit ist das Problem der Entindividualisierung ein gravierendes, auch wenn uns immer mehr suggeriert wird, wie individuell wir uns kleiden, parf\u00fcmieren, schminken und arbeiten k\u00f6nnen. Letztlich bleibt Behringer als einziger Mensch und das auch deswegen, weil er Verantwortung \u00fcbernimmt. F\u00fcr sich und f\u00fcr andere. F\u00fcr Ionesco ist die Erkenntnis offensichtlich zentral, dass keine Massenbewegung ohne Verantwortungslosigkeit entstehen kann. Und insofern ist dieses St\u00fcck ein herrlich absurder Aufruf zu Verantwortung und individuellem Denken.<\/p>\n

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