{"id":3859,"date":"2014-01-05T15:21:06","date_gmt":"2014-01-05T14:21:06","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=3859"},"modified":"2015-02-26T23:07:51","modified_gmt":"2015-02-26T21:07:51","slug":"ernst-glaeser-jahrgang-1902","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2014\/01\/ernst-glaeser-jahrgang-1902\/","title":{"rendered":"Ernst Glaeser – Jahrgang 1902"},"content":{"rendered":"

Ernst Glaeser<\/a> (1902-1963) war ein deutscher Autor. Er studierte Philosophie, Gemanistik und Literaturwissenschaft und war schon in jungen Jahren Redakteur der Frankfurter Zeitung sowie von 1928 bis 1930 Leiter der literarischen Abteilung des S\u00fcdwestdeutschen Rundfunks. Diese Position d\u00fcrfte Glaeser in nicht unwesentlichem Umfang dem Erfolg seines erstmals 1928 erschienenen Romans ,Jahrgang 1902′ zu verdanken haben, der ihn \u00fcber Nacht bekannt und zum Sprecher einer ganzen Generation machte. Angesichts des Gedenkjahres 2014 entschloss sich der Wallstein Verlag<\/a>, dieses St\u00fcck romanhafte Zeitgeschichte neu zu ver\u00f6ffentlichen.<\/p>\n

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Im Folgenden berichte ich, was meine Freunde und ich vom Krieg gesehen haben. Es sind nur Episoden. (…) Meine Beobachtungen sind l\u00fcckenhaft. Es w\u00e4re mir leicht gewesen, einen “Roman” zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu “dichten”. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Mit diesen Worten unterbricht Ernst Glaeser den Fluss seines Romans und verdeutlicht, dass nicht das Stilisieren, sondern das Dokumentieren sein Anliegen als Schriftsteller ist. So will Glaeser sein Werk offensichtlich schon damals mehr als Zeitpanorama begriffen wissen denn als literarisch \u00e4sthetisierte und aufbereitete Lekt\u00fcre. Der Protagonist in ,Jahrgang 1902<\/em>‘ teilt mit Glaeser nicht nur dessen Geburtsjahr und -namen, sondern vermutlich auch das soziale Umfeld, in dem er aufw\u00e4chst, die gehobene Mittelschicht. Beide sind bei Kriegsausbruch 12 Jahre alt und beide sehen ihn mit den Augen eines Kindes, eines Heranwachsenden in einer komplexen Welt, deren Zusammenh\u00e4nge unbegreiflich erscheinen.<\/p>\n

Glaeser schildert die politisch instabile Situation vor Kriegsausbruch, die Grabenk\u00e4mpfe zwischen links und rechts, den schwelenden Antisemitismus, der in Gestalt des kr\u00e4nklichen Leo Silberstein ein wehrloses Opfer findet. Ernsts bester Freund ist Ferd v.K., dessen Vater, ein weltm\u00e4nnischer und vielgereistert Mann der b\u00fcrgerlichen Schicht, den alle nur den ,roten Major<\/em>‘ nennen, vielen eher konservativen und linientreuen Dorfbewohnern ein Dorn im Auge ist. Sieht er den Krieg doch bereits kommen, als andere ihn noch f\u00fcr unm\u00f6glich halten. Ernst nimmt diese unterschwellig feindselige und gesellschaftliche Stimmung wahr, f\u00fcr ihn ist sie kennzeichnendes Merkmal der Erwachsenenwelt.<\/p>\n

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Es geschah zun\u00e4chst nichts. Die Eindr\u00fccke dieses verwirrenden Tages blieben f\u00fcr mich lediglich als Bilder bestehen und auch diese verwischten sich mehr und mehr. Sie schoben sich \u00fcbereinander, ihre Konturen verschwammen, was blieb, war ein \u00e4ngstliches Misstrauen gegen alles, was Erwachsene sagten und taten. Ich schlo\u00df mich sehr von ihnen ab, als k\u00f6nnte mich eine Ber\u00fchrung mit ihnen verwunden, denn es schien mir, sie h\u00e4tten kein anderes Ziel, als einander m\u00f6glichst oft wehe zu tun.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Ein anderes Thema von Glaesers Roman ist die erwachende Sexualit\u00e4t, von der stets nur als ,das Geheimnis’ die Rede ist. Aufgrund relativ freiz\u00fcgiger Passagen – insbesondere eingedenk der Zeit ihrer Ver\u00f6ffentlichung – fand der Roman in konservativen Kreisen wenig Anklang. Jedoch beschreibt er ziemlich genau die aufkommenden Bed\u00fcrfnisse, von denen sein Protagonist nichts versteht, die Vereinzelung der Pubert\u00e4t, die durch die politischen und gesellschaftlichen Vorg\u00e4nge noch um ein Vielfaches potenziert wird. Als aber schlie\u00dflich der Krieg ausbricht, zeigt er zun\u00e4chst sein einigendes, sein pomp\u00f6s-pathetisches Gesicht. Die Welt lag ver\u00e4ndert, der Krieg hatte sie sch\u00f6n gemacht<\/em>, beschreibt der junge Ernst den fatalen Freudentaumel der Massen.Die Menschen liegen sich in den Armen und singen das Deutschlandlied – sofern sie Deutsche sind. Dieser Riss, der pl\u00f6tzlich durch die zuvor noch friedlich beieinandersitzenden V\u00f6lker geht, reicht f\u00fcr Ernst besonders tief. Denn er hat in Gaston, einem franz\u00f6sischen Jungen, auf Kur einen guten Freund gefunden.<\/p>\n

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Es fehlte die Sprache, deren T\u00fccke und Hinterh\u00e4ltigkeit die Menschen so oft auseinanderbringt, es fehlte die Eitelkeit der Dispute und die zerst\u00f6rende Sucht, mit Worten ,recht’ zu behalten. Wir brauchten nicht zu \u00fcbersetzen, was uns bewegte,wir verst\u00e4ndigten uns mit den Augen, mit den Sinnen und alles, was wir taten, war ehrlich.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Diese Freundschaft wird der Krieg zerrei\u00dfen, stehen sich Deutsche und Franzosen doch feindlich gegen\u00fcber. Ernst Glaesers Erinnerungen – und es spricht vieles daf\u00fcr, seinen Roman dergestalt zu verstehen – sind authentisch, bestechen durch eine messerscharfe Sprache und wache Beobachtungsgabe. In nur wenigen S\u00e4tzen mag Glaeser einen Sachverhalt in bildreicher Sprache vor uns auferstehen lassen, klar und deutlich. Immer jedoch, ohne abzuschweifen, ohne zu “dichten”. Fr\u00fchere Ausgaben seines Werkes kommen so auch ohne den Untertitel ,Roman’ daher. \"ErnstGlaeser_Jahrgang1902\"<\/a>Er galt als F\u00fcrsprecher einer Generation, die den Krieg als Werk ihrer Eltern verstand, einer Generation, die zwar alt genug war, ihn bewusst zu erleben, aber noch zu jung, um dabei zu sein. Christian Klein schreibt ein umfangreiches und hoch informatives Nachwort, das auch zu Glaesers politischen Wandlungen einige \u00c4u\u00dferungen und Quellen zusammentr\u00e4gt. Nachdem seine B\u00fccher 1933 noch mit Heine, Feuchtwanger und Brecht zusammen verbrannt wurden, kehrte er 1939 nach Deutschland zur\u00fcck und schrieb f\u00fcr eine Luftwaffenzeitung – im R\u00fccken viele aufgebrachte und fassungslose Exilanten. Diese Neuauflage eines Klassikers der Weimarer Republik d\u00fcrfte nicht nur die erfreuen, die Interesse am Ersten Weltkrieg hegen, – ein besseres Portrait eines Heranwachsenden vor dem Hintergrund einer auseinanderdriftenden Ordnung wird man nicht finden. Und nicht zuletzt wohl auch keinen Roman, der sich auf diese Weise der Geschehnisse hinter der Front annimmt, derer, die die Ersch\u00fctterungen des Krieges nicht im Sch\u00fctzengraben, sondern in Form von Hunger und – mancherorts – Wahnsinn fernab erleben.<\/p>\n

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Wir hatten den Krieg als gro\u00dfe Verbr\u00fcderung erlebt und sahen ihn pl\u00f6tzlich zum Gesch\u00e4ft deklariert. Deutschland, hie\u00df es, m\u00fcsse reicher werden, es brauche die und die Kohlengruben, diesen oder jenen Zugang zur See. Wir begriffen das nicht. War Deutschland eine Firma geworden, der Krieg ein Unternehmen und unsere V\u00e4ter Angestellte dieser Firma, deren Aufsichtsr\u00e4te zu Hause sa\u00dfen?<\/p>\n<\/blockquote>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Ernst Glaeser (1902-1963) war ein deutscher Autor. Er studierte Philosophie, Gemanistik und Literaturwissenschaft und war schon in jungen Jahren Redakteur der Frankfurter Zeitung sowie von 1928 bis 1930 Leiter der literarischen Abteilung des S\u00fcdwestdeutschen Rundfunks. Diese Position d\u00fcrfte Glaeser in nicht unwesentlichem Umfang dem Erfolg seines erstmals 1928 erschienenen Romans ,Jahrgang 1902′ zu verdanken haben, der ihn \u00fcber Nacht bekannt und zum Sprecher einer ganzen Generation machte. Angesichts des Gedenkjahres 2014 entschloss sich der Wallstein Verlag, dieses St\u00fcck romanhafte Zeitgeschichte neu zu ver\u00f6ffentlichen. Im Folgenden berichte ich, was meine Freunde und ich vom Krieg gesehen haben. Es sind nur Episoden. (…) Meine Beobachtungen sind l\u00fcckenhaft. Es w\u00e4re mir leicht gewesen, einen “Roman” zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu “dichten”. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht. Mit diesen Worten unterbricht Ernst Glaeser den Fluss seines Romans und verdeutlicht, dass nicht das Stilisieren, sondern das Dokumentieren sein Anliegen als Schriftsteller ist. So will Glaeser sein Werk offensichtlich schon damals mehr als Zeitpanorama begriffen wissen denn als …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":3860,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[846,1069,1071,1219,1605],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2014\/01\/jahrgang-1902.png","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3859"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3859"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3859\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6032,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3859\/revisions\/6032"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/3860"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3859"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3859"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3859"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}