{"id":3416,"date":"2013-09-02T07:45:26","date_gmt":"2013-09-02T05:45:26","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=3416"},"modified":"2014-07-13T18:58:40","modified_gmt":"2014-07-13T16:58:40","slug":"5-lesen-20-ralph-dutli-soutines-letzte-fahrt","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2013\/09\/5-lesen-20-ralph-dutli-soutines-letzte-fahrt\/","title":{"rendered":"[5 lesen 20] Ralph Dutli – Soutines letzte Fahrt"},"content":{"rendered":"

Ralph Dutli<\/a> ist ein Schweizer Lyriker, Essayist, \u00dcbersetzer und Autor. Er studierte Romanistik und Russistik in Z\u00fcrich und Paris und wurde zun\u00e4chst als \u00dcbersetzer und Herausgeber der Werke Ossip Mandelstams, einem russischen Dichter, bekannt. Schrieb Dutli bisher eher poetologische Abhandlungen oder literatur – und kunsthistorische Essays, legt er mit ‘Soutines letzte Fahrt<\/em>‘ nun seinen ersten Roman vor, der gewisserma\u00dfen verschiedene seiner Themen vor dem Hintergrund des Malers Chaim Soutine verbindet. Der Roman erschien im Wallstein Verlag<\/a> und steht mit neunzehn anderen Romanen auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2013.<\/p>\n

Verglichen mit seinen Wegbegleitern Picasso, Chagall oder Modigliani ist Soutine eher ein Maler, der seine Spuren weniger nachhaltig in den Boden der Kunsthistorie gepr\u00e4gt hat. Kennern ist er freilich ein Begriff, sind seine Gem\u00e4lde sich windender Landschaften und unproportionierter Modelle wohl bekannt. Der Laie aber d\u00fcrfte mit Dutlis Roman zum ersten Mal von diesem schweigsamen, wei\u00dfrussischen Maler h\u00f6ren, der in den sp\u00e4ten 20ern in Paris, in der flirrenden Atmosph\u00e4re von Montparnasse tats\u00e4chlich mit seinen Bildern perspektivischer Verzerrung zu beachtlicher Ber\u00fchmtheit gelangte. Als Sohn eines Flickschneiders 1893 in Smilavichy, einem rund 400-Seelen-Dorf nahe Minsk, geboren, war die Malerei schon fr\u00fch eine seiner Leidenschaften, die jedoch auf wenig Unterst\u00fctzung seitens seiner Familie stie\u00df.<\/p>\n

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Schon fr\u00fch zeichnet er, jeder Fetzen Papier ist eine neue Versuchung, er macht rasche Skizzen, wenn er allein ist, den Blick immer wieder \u00e4ngstlich auf die T\u00fcr gerichtet, ob nicht pl\u00f6tzlich jemand eintritt, ihm den Fetzen aus der Hand rei\u00dft und ihn verpr\u00fcgelt. Er bemalt die W\u00e4nde der Kellertreppe mit Holzkohle. Auch daf\u00fcr gibt es Schl\u00e4ge.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Die Handlung setzt nun im August 1943 ein, in dem Soutine, mit einem Magendurchbruch und schon kaum noch ansprechbar, in einen Leichenwagen verladen und nach Paris gefahren wird, um dort operiert zu werden. Nicht auf direkter Strecke, denn das Land ist noch immer von den Deutschen besetzt, sondern \u00fcber unwegsame Pfade um jeden Kontrollposten herum, da Soutine bereits einige Zeit wegen seiner j\u00fcdischen Abstammung von der Gestapo gesucht wird. Schon seit Jahren bereitet ihm sein Magengeschw\u00fcr uns\u00e4gliche Schmerzen, die jetzt, wo er unter einem wei\u00dfen Tuch im Leichenwagen um sein \u00dcberleben k\u00e4mpft, nahezu unaushaltbar werden. Nur das Morphium, das ihm vor Beginn der Reise verabreicht wird, vermag die Schmerzen noch zu lindern. Mit ihm f\u00e4hrt Marie-Berthe Auranche, ehemalige Geliebte und Muse vieler Surrealisten, darunter Max Ernst.<\/p>\n

\"soutine\"<\/a>

Chaim Soutine v.l. Carcass Of Beef, The Floor Waiter, Landscape at Cagnes<\/p><\/div>\n

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O ja, es gibt immer so etwas wie eine Heilung. Von allem. Und wenn sie Exitus hei\u00dft.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Unter dem Einfluss des Morphiums und bedingt durch das hohe, vom Magendurchbruch verursachte Fieber beginnt Chaim Soutine zu fantasieren, in eine Traumwelt abzugleiten, in der sich Erscheinungen und reale Begebenheiten, Einbildung und Erinnerung zu einem mitunter be\u00e4ngstigenden Gemisch vermengen. So fantasiert er von seiner Ankunft in Paris, von seinen Trinkgelagen mit dem todkranken und tuberkul\u00f6sen Frauenheld Modigliani, vom tragischen Selbstmord seiner schwangeren Freundin Jeanne H\u00e9buterne. Ein bisschen auch vom aufdringlich geschw\u00e4tzigen Henry Miller, von seinem gro\u00dfen Vorbild Rembrandt. In seine Halluzinationen verfolgen ihn auch alle Bilder, die er in Anf\u00e4llen von Tobsucht und J\u00e4hzorn auf verschiedenste Art vernichtete.<\/p>\n

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Nichts als dumpfe Traurigkeit und Leere. Im Feuerritual war mehr w\u00fctender Triumph: das Hervorzerren der Leinw\u00e4nde, die F\u00e4uste am Rahmen festgekrallt, das Hineinschleudern in den rauchenden, schlecht ziehenden Kamin, das Auflodern, wenn die Flammen das \u00d6l geleckt hatten. Keiner hat mehr Bilder zerst\u00f6rt als er, keiner.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Und so bezeichnet der, der den Ruf “des ungl\u00fccklichsten Malers von Paris” genie\u00dft, sich auch h\u00e4ufig ganz zur Entr\u00fcstung aller Umstehenden als “M\u00f6rder seiner Bilder”. Wenn er denn \u00fcberhaupt redet. Soutine ist sch\u00fcchtern, \u00e4ngstlich. Hat nichts von seinen extrovertierten und dandyhaften Wegbegleitern. Weil Milch und Bismutpulver die einzigen Mittel sind, die gegen seine bohrenden Magenschmerzen noch zu helfen verm\u00f6gen, fantasiert er sich im Leichenwagen in ein g\u00e4nzlich wei\u00dfes Paradies, in dem er zwar schmerzfrei, es ihm aber streng verboten ist, jemals wieder zu malen.<\/p>\n

Ralph Dutli gl\u00fcckt mit diesem Roman eine meisterhafte Verquickung von kunsthistorischen Tatsachen und Fiktion. In eindringlicher Sprache breitet er das Leben – und gleichzeitig gewisserma\u00dfen auch das Sterben – Chaim Soutines vor uns aus. Im Vordergrund steht zwar der wei\u00dfrussische Maler, doch im Hintergrund spielen sich allerlei historische und k\u00fcnstlerische Bedeutsamkeiten ab, die seine Erlebnisse plastisch und authentisch in diesen uns wohlbekannten geschichtlichen Ablauf betten. Das Leben vieler K\u00fcnstler war von Hunger und Armut gepr\u00e4gt, mit der Macht\u00fcbernahme Hitlers vielfach auch von einem Kampf ums nackte \u00dcberleben. Dieser Roman l\u00e4sst uns in die Geschichte eintauchen und eine hervorragend ausgefeilte Sprache genie\u00dfen. Dutli gibt diesem geplagten Maler mit seinen Worten ein Gesicht, weckt Interesse an seiner Kunst. Viel mehr kann man von einem guten Roman, der sich realer Personen und Geschehnisse bedient, eigentlich gar nicht erwarten. Chapeau, Herr Dutli!<\/p>\n

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Jeder Verrat ruft nach einem weiteren Verrat, jede Verletzung erzeugt eine neue, n\u00e4chste. So bleibt die Erde am Drehen.<\/p>\n<\/blockquote>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Ralph Dutli ist ein Schweizer Lyriker, Essayist, \u00dcbersetzer und Autor. Er studierte Romanistik und Russistik in Z\u00fcrich und Paris und wurde zun\u00e4chst als \u00dcbersetzer und Herausgeber der Werke Ossip Mandelstams, einem russischen Dichter, bekannt. Schrieb Dutli bisher eher poetologische Abhandlungen oder literatur – und kunsthistorische Essays, legt er mit ‘Soutines letzte Fahrt‘ nun seinen ersten Roman vor, der gewisserma\u00dfen verschiedene seiner Themen vor dem Hintergrund des Malers Chaim Soutine verbindet. Der Roman erschien im Wallstein Verlag und steht mit neunzehn anderen Romanen auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2013. Verglichen mit seinen Wegbegleitern Picasso, Chagall oder Modigliani ist Soutine eher ein Maler, der seine Spuren weniger nachhaltig in den Boden der Kunsthistorie gepr\u00e4gt hat. Kennern ist er freilich ein Begriff, sind seine Gem\u00e4lde sich windender Landschaften und unproportionierter Modelle wohl bekannt. Der Laie aber d\u00fcrfte mit Dutlis Roman zum ersten Mal von diesem schweigsamen, wei\u00dfrussischen Maler h\u00f6ren, der in den sp\u00e4ten 20ern in Paris, in der flirrenden Atmosph\u00e4re von Montparnasse tats\u00e4chlich mit seinen Bildern perspektivischer Verzerrung zu beachtlicher Ber\u00fchmtheit gelangte. Als Sohn eines Flickschneiders 1893 …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":3417,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[839],"tags":[982,1267,1316,1365,1403,1440,1527,1605],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2013\/09\/dutli.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3416"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3416"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3416\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6096,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3416\/revisions\/6096"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/3417"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3416"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3416"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3416"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}