{"id":3031,"date":"2013-07-21T09:31:23","date_gmt":"2013-07-21T07:31:23","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=3031"},"modified":"2013-07-21T09:31:23","modified_gmt":"2013-07-21T07:31:23","slug":"franz-hohler-gleis-4","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2013\/07\/franz-hohler-gleis-4\/","title":{"rendered":"Franz Hohler – Gleis 4"},"content":{"rendered":"

\"hohler\"<\/a><\/p>\n

Franz Hohler<\/a> ist ein Schweizer Autor, Kabarettist und Liedermacher. Er studierte an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich Germanistik und Romanistik. Schon w\u00e4hrend des Studiums f\u00fchrte er sein erstes Soloprogramm pizzicato<\/em> auf, das sich als so erfolgreich erwies, dass Hohler beschloss, das Studium abzubrechen und von seiner Kunst zu leben. Im M\u00e4rz feierte Hohler seinen 70.Geburtstag, ihm zu Ehren ver\u00f6ffentlichte der Luchterhand Verlag<\/a> bereits Anfang des Jahres den Erz\u00e4hlband “Der Geisterfahrer”.<\/p>\n

Stellen wir uns vor, wir bef\u00e4nden uns mit schwerem Gep\u00e4ck auf einem gut besuchten Bahnhof. Vor uns eine unerh\u00f6rt steile Treppe, neben uns ein Koffer, den wir lieber durch die Luft dirigieren als diese steile Anh\u00f6he hinaufschleppen wollen. Unversehens taucht neben uns ein \u00e4lterer Herr auf und bietet an, den Koffer zu tragen. Ein Gentleman der alten Schule, denken wir und willigen nach einigen Sekunden Bedenkzeit erfreut ein. Es gibt sie noch, die guten Menschen, die Helfer ohne Hintergedanken, werden wir denken, w\u00e4hrend der Mann uns voraus nach oben schreitet. Scheinbar m\u00fchelos und guter Dinge.<\/p>\n

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Der Mann rollte den Koffer zum Rand des Bahnsteigs, lie\u00df ihn stehen und machte eine galante Geste zu Isabelle hin. “Vielen Dank”, sagte sie, “das war aber sehr nett.” Der Angesprochene nickte l\u00e4chelnd, doch anstatt den Kopf wieder hochzuheben, lie\u00df er ihn auf die Brust sinken, hielt sich einen Moment am Kofferb\u00fcgel fest und fiel dann der L\u00e4nge nach hin. Sein Sch\u00e4del schlug mit einem b\u00f6sen Ger\u00e4usch auf dem Boden auf, und er blieb mit ge\u00f6ffnetem Mund und geschlossenen Augen liegen. Der eine Arm ragte ein bisschen \u00fcber die Bahnsteigkante hinaus, auch die Mappe w\u00e4re beinahe auf das Geleise hinuntergefallen.<\/p>\n<\/blockquote>\n

So ergeht es Isabelle Rast, einer Altenpflegerin um die f\u00fcnfzig, die sich gerade von einer Operation erholt. Sie war auf dem Weg nach Stromboli, um mit ihrer Freundin Barbara dort Urlaub zu machen, als der namenlose Mann nach dem Treppenaufstieg pl\u00f6tzlich oben tot zusammenbricht. Schockiert und betroffen sagt sie ihren Urlaub ab, kann sich aber nicht von diesem Vorkommnis l\u00f6sen. Tr\u00e4gt sie eine Mitschuld? Schlie\u00dflich hat der Mann ihren schweren Koffer getragen. Ging es ihm nicht gut? H\u00e4tte sie es sehen m\u00fcssen? Dar\u00fcber hinaus trug er keinerlei Papiere bei sich, niemand wei\u00df, wer der hilfsbereite Mann war, der nun tot unter einer wei\u00dfen Zeltplane auf dem Gleis 4 liegt.<\/p>\n

Zu allem \u00dcberfluss stellt Isabelle, zuhause angekommen, ern\u00fcchtert fest, dass sie versehentlich die lederne Mappe des Verstorbenen mitgenommen hat, inklusive eines Handys, das pl\u00f6tzlich zu klingeln beginnt. Sie schlie\u00dft das Telefon, warum, wei\u00df sie auch nicht genau, in ihrem Badezimmer ans Stromnetz an, um den Akku aufzuladen und versichert sich, es gleich am n\u00e4chsten Tag zur Polizei zu bringen. Bis dahin klingelt es jedoch noch einige Male und aus Neugier nimmt sie ab: “Wo ist Marcel<\/em>?”, lautet die Frage am anderen Ende – “Wir wollen ihn morgen in Nordheim nicht sehen. Sag ihm das<\/em>.”<\/p>\n

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Der Tote war identifiziert. Man hatte beim nochmaligen Durchsuchen seiner Kleidung doch noch etwas gefunden, n\u00e4mlich ein Streichholzbriefchen in einem Brustt\u00e4schchen seines Hemdes. Darauf stand der Name eines Hotels, man hatte dort mit dem Foto des Verstorbenen nachgefragt, und zwei Frauen an der Rezeption hatten ihn erkannt. Sein Name war Martin Blancpain, ein Kanadier aus Montr\u00e9al, man hatte f\u00fcr den Fall, dass sie sich doch t\u00e4uschten, die Nacht verstreichen lassen, und als er nicht zur\u00fcckkam, drang man in das Zimmer ein, fand dort auch seinen Pass und die Reiseunterlagen, die zeigten, dass er am Tag vor seinem Tod auf dem Flughafen Z\u00fcrich angekommen war.<\/p>\n<\/blockquote>\n

Isabelle Rasts Verwirrung wird immer gr\u00f6\u00dfer, als man ihr diese Nachricht \u00fcbermittelt. Hei\u00dft der Mann nun Marcel oder Martin? Ist er Schweizer oder Kanadier? Und von wem kommen diese anonymen Anrufe, die immer wieder auf seinem Handy eingehen? Als Isabelle schlie\u00dflich gebeten wird, mit der aus Kanada anreisenden Witwe Veronique zu sprechen, verstrickt sie sich tief in die Vergangenheit des Mannes, mit dem sie doch nichts weiter verbindet als sein Tod – und ihr Koffer.<\/p>\n

Franz Hohler erz\u00e4hlt eine Geschichte, die hier und dort fast kriminalistische Z\u00fcge annimmt. Sein n\u00fcchterner und schn\u00f6rkelloser Tonfall, verleiht den schrittweise ans Tageslicht kommenden Enth\u00fcllungen \u00fcber den Toten mitunter noch viel mehr Wucht. Selbst seine Witwe wei\u00df nichts \u00fcber seine Jugendzeit und so ger\u00e4t sein Ableben zur Spurensuche, die alle Beteiligten \u00fcberraschen wird. Bisweilen finden sich in Hohlers Geschichte kleine Absurdit\u00e4ten, die nicht ganz ins Bild passen m\u00f6gen. So zum Beispiel eine Voodoo-Puppe, die einer alten Freundin des Toten Kopfschmerzen bereitet, ein kleines afrikanisches Ritual und eine Menge ungew\u00f6hnlicher Zuf\u00e4lle. Zwar tut das der Spannung des Romans keinen Abbruch, l\u00e4sst seine Stimmung aber hier und da ins Absonderliche kippen. Wer davon nicht beirrt ist, wird eine Geschichte vorfinden, die gut unterh\u00e4lt und uns ein bisschen daran erinnert, wie wenig wir doch eigentlich von unseren Mitmenschen wissen.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Franz Hohler ist ein Schweizer Autor, Kabarettist und Liedermacher. Er studierte an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich Germanistik und Romanistik. Schon w\u00e4hrend des Studiums f\u00fchrte er sein erstes Soloprogramm pizzicato auf, das sich als so erfolgreich erwies, dass Hohler beschloss, das Studium abzubrechen und von seiner Kunst zu leben. Im M\u00e4rz feierte Hohler seinen 70.Geburtstag, ihm zu Ehren ver\u00f6ffentlichte der Luchterhand Verlag bereits Anfang des Jahres den Erz\u00e4hlband “Der Geisterfahrer”. Stellen wir uns vor, wir bef\u00e4nden uns mit schwerem Gep\u00e4ck auf einem gut besuchten Bahnhof. Vor uns eine unerh\u00f6rt steile Treppe, neben uns ein Koffer, den wir lieber durch die Luft dirigieren als diese steile Anh\u00f6he hinaufschleppen wollen. Unversehens taucht neben uns ein \u00e4lterer Herr auf und bietet an, den Koffer zu tragen. Ein Gentleman der alten Schule, denken wir und willigen nach einigen Sekunden Bedenkzeit erfreut ein. Es gibt sie noch, die guten Menschen, die Helfer ohne Hintergedanken, werden wir denken, w\u00e4hrend der Mann uns voraus nach oben schreitet. Scheinbar m\u00fchelos und guter Dinge. Der Mann rollte den Koffer zum Rand des Bahnsteigs, lie\u00df ihn stehen …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":3032,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[839],"tags":[1079,1101,1157,1308,1553,1568,1576],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2013\/06\/hohler.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3031"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3031"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3031\/revisions"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/3032"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3031"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3031"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3031"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}