{"id":2158,"date":"2013-03-11T06:54:42","date_gmt":"2013-03-11T06:54:42","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=2158"},"modified":"2013-03-11T06:54:42","modified_gmt":"2013-03-11T06:54:42","slug":"ulrike-edschmid-das-verschwinden-des-philip-s","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2013\/03\/ulrike-edschmid-das-verschwinden-des-philip-s\/","title":{"rendered":"Ulrike Edschmid – Das Verschwinden des Philip S."},"content":{"rendered":"

\"Edschmid\"<\/a><\/p>\n

Ulrike Edschmid<\/a> ist eine deutsche Autorin. Sie studierte sowohl Literaturwissenschaft und P\u00e4dagogik in Berlin und Frankfurt als auch an der Deutschen Film – und Fernsehakademie in Berlin. Viele von Edschmids Arbeiten basieren auf realen Personen oder Gegebenheiten. So sprach sie f\u00fcr ihre ersten Werke mit den Frauen ber\u00fchmter Literaten und befragte sie zu deren Leben, in Wir wollen nicht mehr dar\u00fcber reden<\/em> besch\u00e4ftigt sie sich mit dem tiefen Graben, der als Schatten des Nationalsozialismus das im Aufbau befundliche Nachkriegsdeutschland\u00a0 durchzieht. Als Basis daf\u00fcr dienen hunderte Briefe zwischen ihrem Schwiegervater und dessen Frau. Im hier vorliegenden Werk thematisiert sie den Weg ihres alten Freundes Werner Sauber<\/a> in den Untergrund.<\/p>\n

F\u00fcr alle, die sich mit der 68er-Generation und deren radikalisierten Ausl\u00e4ufern besch\u00e4ftigen wollen oder besch\u00e4ftigt haben, ist dieses Buch sicherlich ein Gewinn. Ich habe mich vor Jahren intensiv mit der RAF besch\u00e4ftigt, mit deren Zustandekommen, der Studentenrevolte. Ich sah bis sp\u00e4t in die Nacht Gespr\u00e4chsrunden mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit, versuchte mich an Herbert Marcuse und scheiterte, las Bernward Vesper, Stefan Austs Baader Meinhof Komplex<\/em> und Gerd Koenens Vesper,Ensslin und Baader<\/em>. Etwas gab und gibt es an dieser Zeit, das mich nachhaltig fasziniert und so stie\u00df ich auf dieses Buch von Ulrike Edschmid, Roman als Bezeichnung ist hierf\u00fcr vielleicht irref\u00fchrend, vielmehr sind es Erinnerungen, in ein prosaisches Gewand gekleidet. Wer war Werner Sauber, bevor er in den Untergrund ging? Wer war er, bevor beide sich kennen und lieben lernten? Und wie viel von sich selbst kann man f\u00fcr eine gro\u00dfe Sache aufopfern, ohne die Realit\u00e4t aus den Augen und den Boden unter den F\u00fc\u00dfen zu verlieren?<\/p>\n

Philip S. kommt im Sp\u00e4tsommer 1967 nach Berlin. Er tr\u00e4gt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht. Mit dem schmalen Bart, der seinem l\u00e4ndlichen Gesicht eine altmodische Strenge verleiht, \u00e4hnelt er dem Basler Bonifacius Amerbach, wie ihn der j\u00fcngere Hans Holbein vor etwa f\u00fcnfhundert Jahren gemalt hat. Er ist zwanzig, und es scheint, als h\u00e4tte er sein Alter bereits mit weitausholenden Schritten durchquert. Aber er bewegt sich nicht mit fliegenden Rocksch\u00f6\u00dfen, eher bed\u00e4chtig und die Augenblicke dehnend, als m\u00fcsse er sie aussch\u00f6pfen bis auf den Grund.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Er studierte in Berlin an der Deutschen Film – und Fernsehakademie, stammte aus reichem Schweizer Elternhaus, sein Bruder Peter Sauber<\/a> ist ein Formel-1-Pionier, Rennstallbesitzer, Konstrukteur von Sportwagen. Philip Werner Sauber sticht heraus mit seiner k\u00fcnstlerischen Begabung, mit seinem Hang zur Fotografie und zum Film. 1968 drehte er Der einsame Wanderer, <\/em>einen Kurzfilm, der an der Akademie zun\u00e4chst wenig Beachtung fand und vorallendingen von der politischeren Fraktion der Studenten f\u00fcr wenig zielf\u00fchrend im Kampf gegen Imperialismus und Vietnamkrieg gehalten wurde. Doch sp\u00e4testens mit dem Attentat auf Rudi Dutschke wird Sauber politisiert, r\u00fcckt er ab von einem rein \u00e4sthetischen Gesichtspunkt seiner Arbeit, hin zu einem zielgerichteten.<\/p>\n

Zwei Tage sp\u00e4ter, am elften April, trifft ein Mann im Interzonenzug am Bahnhof Zoo ein. Er kommt mit dem Plan, einen bekannten Studentenf\u00fchrer zu t\u00f6ten. Er tr\u00e4gt zwei Pistolen bei sich, eine unter der Jacke, eine zweite in einer Tasche. In der Tasche befindet sich auch die Bildzeitung, die seit langem eine Hetzjagd auf den\u00a0 Studentenf\u00fchrer betreibt. Der Mann schie\u00dft, als der Studentenf\u00fchrer mit dem Fahrrad von der Johann-Georg-Stra\u00dfe auf den Kurf\u00fcrstendamm einbiegt. Der Getroffene st\u00fcrzt vom Fahrrad, rei\u00dft sich die Schuhe von den F\u00fc\u00dfen und die Uhr vom Handgelenk. Er ruft nach seiner Mutter, nach seinem Vater. <\/em><\/p><\/blockquote>\n

Rudi Dutschke wird das Attentat \u00fcberleben, aber das Sprechen und Schreiben neu lernen m\u00fcssen. Einige Jahre sp\u00e4ter wird er in der Badewanne einen epileptischen Anfall erleiden – eine Folge der Sch\u00fcsse in den Kopf – und ertrinken. Philip Sauber beginnt immer \u00f6fter auf Kundgebungen zu gehen und sich an Demonstrationen zu beteiligen. Er distanziert sich von der Eulenspiegelei der Kommune 1, aber auch von der Radikalit\u00e4t der sich langsam formierenden RAF. Er ist im Umfeld der Bewegung 2.Juni<\/a> aktiv (benannt nach dem Tag, an dem der Polizist Karl-Heinz Kurras Benno Ohnesorg niederschoss) Sie drucken kritische Zeitungen, gegen den Vietnamkrieg und den amerikanischen Pr\u00e4sidenten, sie besch\u00e4digen Autos, sprayen auf H\u00e4userw\u00e4nde, geben befreundeten Aktivisten R\u00fcckendeckung. So auch Ulrike Edschmid, bis zu einem gewissen Punkt. Sie hat einen kleinen Sohn. Als sie einmal f\u00fcr einige Wochen f\u00e4lschlicherweise wegen eines Vergehens anderer inhaftiert wird, kann sie nur noch an ihren Sohn denken. Nach diesem Gef\u00e4ngnisaufenthalt ist vieles anders. Sauber zieht es in den Untergrund, Edschmid zur\u00fcck in ihr Leben.<\/p>\n

Bis zu dem Tag, an dem er es tat, glaubte ich nicht, dass er es tun w\u00fcrde. Ich sehe, wie er das wenige, was er besitzt, aufgibt, ich nehme wahr, was unter meinen Augen vorgeht. Aber ich habe keinen Zugang mehr zu dem inneren Ort, an dem seine Vorstellung zum Entschluss und schlie\u00dflich zur Tat reift. Es ist der Bereich, wo es nur ihn gibt und niemand sonst. Und weil in seinem Leben alles eine Form hat, entwirft er wie in einem Szenenwechsel eine Vorstellung von seiner zuk\u00fcnftigen Existenz als Mensch im Untergrund. Und wie er seinem Leben als K\u00fcnstler eine perfekte Gestalt gegeben hat, muss auch sein Leben im Untergrund stimmen, bis in die letzte Einzelheit.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Am 9. Mai 1975 stirbt Philip Werner Sauber bei einem Schusswechsel mit der Polizei. Er war achtundzwanzig Jahre alt. Ulrike Edschmid n\u00e4hert sich mit diesem einf\u00fchlsamen Buch der radikalisierten Studentenbewegung der 68er von einer ganz anderen Seite. Von der menschlichen. Sie hat Bezug zu diesem Mann, den andere nur als Terroristen von Fahndungsplakaten kannten. Und sie nutzt diese pers\u00f6nliche Verflechtung, um Einblick zu gew\u00e4hren in das, was die Menschen damals bewegte. F\u00fcr mich ist dieses Buch nicht\u00a0 nur ein wichtiges St\u00fcck pers\u00f6nliche Erinnerung, sondern auch ein literarisch anspruchsvoller R\u00fcckblick in das Deutschland der 60er und 70er-Jahre.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Ulrike Edschmid ist eine deutsche Autorin. Sie studierte sowohl Literaturwissenschaft und P\u00e4dagogik in Berlin und Frankfurt als auch an der Deutschen Film – und Fernsehakademie in Berlin. Viele von Edschmids Arbeiten basieren auf realen Personen oder Gegebenheiten. So sprach sie f\u00fcr ihre ersten Werke mit den Frauen ber\u00fchmter Literaten und befragte sie zu deren Leben, in Wir wollen nicht mehr dar\u00fcber reden besch\u00e4ftigt sie sich mit dem tiefen Graben, der als Schatten des Nationalsozialismus das im Aufbau befundliche Nachkriegsdeutschland\u00a0 durchzieht. Als Basis daf\u00fcr dienen hunderte Briefe zwischen ihrem Schwiegervater und dessen Frau. Im hier vorliegenden Werk thematisiert sie den Weg ihres alten Freundes Werner Sauber in den Untergrund. F\u00fcr alle, die sich mit der 68er-Generation und deren radikalisierten Ausl\u00e4ufern besch\u00e4ftigen wollen oder besch\u00e4ftigt haben, ist dieses Buch sicherlich ein Gewinn. Ich habe mich vor Jahren intensiv mit der RAF besch\u00e4ftigt, mit deren Zustandekommen, der Studentenrevolte. Ich sah bis sp\u00e4t in die Nacht Gespr\u00e4chsrunden mit Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit, versuchte mich an Herbert Marcuse und scheiterte, las Bernward Vesper, Stefan Austs Baader Meinhof Komplex und …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":2159,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[839,840],"tags":[847,921,1437,1523,1525],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2013\/03\/edschmid.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2158"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2158"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2158\/revisions"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/2159"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2158"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2158"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2158"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}