{"id":2118,"date":"2013-03-08T21:24:22","date_gmt":"2013-03-08T21:24:22","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=2118"},"modified":"2013-03-08T21:24:22","modified_gmt":"2013-03-08T21:24:22","slug":"adam-johnson-das-geraubte-leben-des-waisen-jun-do","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2013\/03\/adam-johnson-das-geraubte-leben-des-waisen-jun-do\/","title":{"rendered":"Adam Johnson – Das geraubte Leben des Waisen Jun Do"},"content":{"rendered":"

\"Jundo\"<\/a><\/p>\n

Adam Johnson<\/a> ist ein amerikanischer Autor. Er studierte Journalismus an der Arizona State University und schloss danach ein Schreibstudium ab, heute unterrichtet er an der Stanford University Creative Writing. The Orphan Master’s Son,<\/em> wie der Originaltitel des hier vorgestellten Buches lautet, erschien in den USA 2012 und stieg schon nach wenigen Tagen in die Bestsellerlisten ein. Johnson erhielt bereits zahlreiche Preise und Stipedien.<\/p>\n

Im Trailer des Buches hei\u00dft es beinahe geheimnisvoll: Das r\u00e4tselhafteste Land der Welt – Nordkorea<\/em>. Tats\u00e4chlich ist wohl kaum jemand von uns imstande, zu ermessen, wie ein Leben in Nordkorea aussehen muss, v\u00f6llig abgeschnitten von westlicher Lebensart, separiert vom Rest der Welt. Nordkorea ist ein trauriges \u00dcberbleibsel sozialistischer Diktatur, ist das, was von Stalins Gulags und den Stasi-Gef\u00e4ngnissen der DDR \u00fcbrig geblieben ist. Wenn ich an Nordkorea denke, muss ich mich immer unweigerlich an eine Dokumentation erinnern, die ich zwar bereits vor Jahren gesehen habe, deren beklemmendes Gef\u00fchl ich aber noch heute sp\u00fcren kann. St\u00e4ndige \u00dcberwachung, Hab-Acht-Stellung, Gleichschaltung, Kollektiverfahrung vor Individualit\u00e4t. Adam Johnson ist f\u00fcr die Recherche seines Buches nach Nordkorea gereist – und so gelingt es ihm auch, diese Beklemmung einzufangen, von der man nicht sicher ist, ob die Bewohner sie auch noch sp\u00fcren. Oder ob die sich nicht vielmehr von der Fremdheit ausl\u00e4ndischer Besucher bedroht f\u00fchlen.<\/p>\n

Der Protagonist Pak Jun Do w\u00e4chst in einem Waisenhaus auf, obwohl er kein Waisenkind ist. Sein Vater ist der Leiter des Waisenhauses, seine Mutter ist lange verschwunden. Ihm wird keine Sonderbehandlung zuteil und so bekommt er, wie alle anderen Waisenkinder, den Namen eines nordkoreanischen M\u00e4rtyrers, der im Kampf gegen den Imperialismus fiel, bevor er selbst ein Kind in die Welt setzen konnte. Waisenkinder haben in Nordkorea einen schlechten Stand und werden f\u00fcr die gef\u00e4hrlichsten Aufgaben herangezogen. Nach einem Brand im Waisenhaus Frohe Zukunft <\/em>wird Pak Jun Do dazu verpflichtet, gemeinsam mit Offizier So Japaner nach Nordkorea zu verschleppen. Entf\u00fchrungen<\/a> wie diese hat es in den 70er Jahren tats\u00e4chlich gegeben, man wollte unter anderem an japanische P\u00e4sse herankommen, um Spione nach Japan schicken zu k\u00f6nnen, bzw. spezielles Wissen \u00fcber das Leben in Japan in Erfahrung bringen.<\/p>\n

Es war einmal ein Japaner. Er f\u00fchrte seinen Hund aus. Und dann war er weg, war nirgendwo. F\u00fcr die Menschen, die ihn kannten, w\u00fcrde er f\u00fcr immer im Nirgendwo sein. So war es Jun Do fr\u00fcher immer mit den Jungen gegangen, die von den M\u00e4nnern mit chinesischem Akzent ausgesucht wurden. Eben waren sie noch da, und dann waren sie weg und verschwunden, wie Bo Song, im Nirgendwo. So dachte er \u00fcber die meisten Menschen – sie tauchten in seinem Leben auf wie Findelkinder an der T\u00fcrschwelle, nur um dann sp\u00e4ter wie von einer gro\u00dfen Flut weggesp\u00fclt zu werden.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Pak Jun Do wirkt bei den Entf\u00fchrungen mit, zwar nicht voller \u00dcberzeugung, aber auch nicht widerwillig. Was auch immer geschieht, sein Leben scheint stets in den H\u00e4nden einer h\u00f6heren Macht zu liegen. Nach einigen Entf\u00fchrungen wird er auf ein Fischerboot namens Junma<\/em> abkommandiert, auf dem er den Funkverkehr der umliegenden Gew\u00e4sser abh\u00f6ren soll. Er freundet sich mit der Mannschaft an, doch nachdem er den Zweiten Maat dabei beobachtete, wie er sich absetzt und nach der R\u00fcckkehr an Land gemeinsam mit seinen Kameraden der L\u00fcge \u00fcberf\u00fchrt wird – ja, f\u00fcr diese L\u00fcge lie\u00df er sich sogar den Arm von einem Haifisch zerfleischen -, kehrt er nicht an Bord der Junma zur\u00fcck, sondern fliegt, auch aufgrund seiner Sprachkenntnisse, mit einigen Abgesandten nach Texas, um dort den amerikanischen Senator zu treffen.<\/p>\n

F\u00fcr uns hat die Geschichte gr\u00f6\u00dfere Bedeutung als die Person. Wenn ein Mann nicht zu seiner Geschichte passt, dann ist es der Mann, der sich \u00e4ndern muss.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Zur\u00fcck aus Texas, wo Pak Jun Do so einige Dinge zum ersten Mal sieht, wird er in ein Gefangenenlager verbracht. Dort verliert sich seine Spur und das erste Drittel des Buches endet. Fortan wird die Geschichte aus der Sicht eines Verh\u00f6rspezialisten aus Abteilung 42 erz\u00e4hlt. Der soll einen Mann verh\u00f6ren, der sich als Kommandant Ga ausgibt. (ein Volksheld und der angetraute Gatte der Volksschauspielerin Sun Moon) Der harte Teil des Buches beginnt, denn wir werden Zeuge von grausigen Verh\u00f6rmethoden und tiefster menschlicher Verzweiflung.<\/p>\n

Halten wir erst einmal die Biografie eines Klienten in der Hand, dann steht nichts mehr zwischen diesem B\u00fcrger und dem Staat. Das ist wahre Harmonie – das Prinzip, auf das unsere Nation gegr\u00fcndet ist. Zugegeben, manche unserer Klienten haben weit ausufernde Lebensgeschichten, deren Aufzeichnung Monate dauert. Doch wenn es etwas gibt, das in Nordkorea keine Mangelware ist, dann ist es Zeit: Wir haben alle Zeit der Welt.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Wir erfahren, was mit Pak Jun Do passiert ist, nachdem er das Straflanger betreten hat, wie es ihm gelungen ist, zu \u00fcberleben, wie er eine neue Identit\u00e4t annehmen konnte und wie er seine gro\u00dfe Liebe – die einzige, die er vermutlich jemals hatte – Sun Moon mithilfe eines gewagten Plans au\u00dfer Landes bringt. F\u00fcr immer. Die Geschichte wird r\u00fcckw\u00e4rts erz\u00e4hlt und als Leser wissen wir bereits, welchen Preis Pak Jun Do, alias Kommandant Ga, f\u00fcr diese Entscheidung zahlen muss. Diesen erz\u00e4hlerischen Kniff fand ich insofern sehr interessant, als er die Innenansichten eines weiteren Charakters erm\u00f6glicht, eines Menschen, der R\u00e4dchen innerhalb dieser diktatorischen Unterdr\u00fcckungsmaschinerie ist.<\/p>\n

Adam Johnson entz\u00fcndet mit diesem Buch ein Feuerwerk. Ein Feuerwerk an Ideen, an Gef\u00fchlen und an Geschichten. Ein Feuerwerk, das mir pers\u00f6nlich an manchen Stellen beinahe zu laut und zu bunt ist. Unz\u00e4hlige kleine Erz\u00e4hlstr\u00e4nge wuseln durch den K\u00f6rper der Geschichte, Pak Jun Do wird wie ein Boot auf dem Meer von einer Stelle zur n\u00e4chsten getrieben, rastlos, v\u00f6llig fremdbestimmt. Das hat es mir erschwert, mich mit ihm zu identifizieren, kaum war ich bei ihm, war er bereits wieder woanders. Zu bunt wird es mir, im Sinne von zu sehr ausgestaltet, wenn es um die Dialoge geht, in denen der Geliebte F\u00fchrer Kim Jong Il selbst auftritt. Vielleicht werde ich hier Opfer der zahlreichen Parodien, aber ich kann mir diese Dialoge, so romanhaft sie eben auch gestaltet sind, nicht in aller Ernsthaftigkeit vorstellen – und so verlieren sie f\u00fcr mich ihren Reiz. Nicht alles muss man zeigen und sprachlich ausgestalten, hier h\u00e4tte ich mir etwas weniger Worte gew\u00fcnscht, mehr (Spiel)raum f\u00fcr eigene Assoziationen.<\/p>\n

Was hat Adam Johnson bewogen, dieses Monumentalwerk von beinahe 700 Seiten ausgerechnet \u00fcber Nordkorea zu schreiben? Er selbst sagt Folgendes:<\/p>\n

Around the 2004 [U.S. Presidential] election I became fascinated with propaganda. The Bush administration was weighing heavily on me, and I remember they had the Healthy Forest Act, which actually called for increased logging and the destruction of forests. I had it in my head that such things were spin, but in studying North Korea I realized, oh no, that is propaganda.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Das ganze Interview gibt es hier<\/a>. Mich hat dieses Buch \u00fcberrascht, es war so vollkommen anders als ich erwartet hatte. Und so muss ich leider auch sagen, dass es mich nicht vollst\u00e4ndig \u00fcberzeugen konnte. Manche Passagen entfalten eine solche Wucht, das einem beinahe der Atem stockt, aber dann f\u00fchlt man sich auch wieder etwas alleingelassen in dieser \u00fcberbordenden F\u00fclle des Romans. Ein bisschen zu lang und ein bisschen zu ausgeschm\u00fcckt f\u00fcr meinen Geschmack, ein bisschen zu romantisiert. F\u00fcr mich kein Muss, wenn es mir auch einige sch\u00f6ne Lesestunden beschert hat.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Adam Johnson ist ein amerikanischer Autor. Er studierte Journalismus an der Arizona State University und schloss danach ein Schreibstudium ab, heute unterrichtet er an der Stanford University Creative Writing. The Orphan Master’s Son, wie der Originaltitel des hier vorgestellten Buches lautet, erschien in den USA 2012 und stieg schon nach wenigen Tagen in die Bestsellerlisten ein. Johnson erhielt bereits zahlreiche Preise und Stipedien. Im Trailer des Buches hei\u00dft es beinahe geheimnisvoll: Das r\u00e4tselhafteste Land der Welt – Nordkorea. Tats\u00e4chlich ist wohl kaum jemand von uns imstande, zu ermessen, wie ein Leben in Nordkorea aussehen muss, v\u00f6llig abgeschnitten von westlicher Lebensart, separiert vom Rest der Welt. Nordkorea ist ein trauriges \u00dcberbleibsel sozialistischer Diktatur, ist das, was von Stalins Gulags und den Stasi-Gef\u00e4ngnissen der DDR \u00fcbrig geblieben ist. Wenn ich an Nordkorea denke, muss ich mich immer unweigerlich an eine Dokumentation erinnern, die ich zwar bereits vor Jahren gesehen habe, deren beklemmendes Gef\u00fchl ich aber noch heute sp\u00fcren kann. St\u00e4ndige \u00dcberwachung, Hab-Acht-Stellung, Gleichschaltung, Kollektiverfahrung vor Individualit\u00e4t. Adam Johnson ist f\u00fcr die Recherche seines Buches nach Nordkorea gereist …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[839],"tags":[1386,1525,1603],"jetpack_featured_media_url":"","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2118"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2118"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2118\/revisions"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2118"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2118"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2118"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}