{"id":1938,"date":"2013-02-05T10:04:32","date_gmt":"2013-02-05T10:04:32","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=1938"},"modified":"2013-02-05T10:04:32","modified_gmt":"2013-02-05T10:04:32","slug":"jonas-luscher-fruhling-der-barbaren","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2013\/02\/jonas-luscher-fruhling-der-barbaren\/","title":{"rendered":"Jonas L\u00fcscher – Fr\u00fchling der Barbaren"},"content":{"rendered":"

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Jonas L\u00fcscher<\/a> ist ein schweizerischer Schriftsteller. Er machte eine Ausbildung zum Primarschullehrer in Bern und studierte an der Hochschule f\u00fcr Philosophie in M\u00fcnchen. Heute arbeitet er als Doktorand am Lehrstuhl f\u00fcr Philosophie an der ETH Z\u00fcrich. Fr\u00fchling der Barbaren<\/em> ist sein Deb\u00fct; eine Novelle.<\/p>\n

Dieses schmale B\u00fcchlein war f\u00fcr mich stilistisch und inhaltlich eine durch und durch positive \u00dcberraschung. Von au\u00dfen vermutet man gar nicht, was alles in ihm steckt, – f\u00fcr mich eine Perle, die sich zu lesen lohnt! Schon mit der Erz\u00e4hlperspektive beginnt es, die L\u00fcscher sehr geschickt konstruiert. Im Grunde gibt es zwei Erz\u00e4hler, den alternden Preising, ein Schweizer Unternehmer, um dessen kleine Geschichte es geht und seinen Zuh\u00f6rer, der in der Ich-Form \u00fcber den Spaziergang mit Preising berichtet. Dieser kleine Kniff l\u00e4sst eine fast filmische Atmosph\u00e4re entstehen, die mich vom ersten Satz an sofort in die Geschichte gezogen hat.<\/p>\n

“Nein”, sagte Preising, “du stellst die falschen Fragen”, und um seinem Einwand Nachdruck zu verleihen, blieb er mitten auf dem Kiesweg stehen. Eine Angewohnheit, die ich nicht ausstehen konnte, denn dergestalt glichen unsere Spazierg\u00e4nge den kurzatmigen Wanderungen alter, \u00fcbergewichtiger Bassets. Und dennoch spazierte ich t\u00e4glich mit Preising, denn an diesem Ort war er mir, trotz seiner zahlreichen \u00e4rgerlichen Eigenheiten, noch immer der liebste Gef\u00e4hrte. “Nein”, wiederholte er und setzte sich endlich wieder in Bewegung, “du stellst die falschen Fragen.”<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Preising wird alt und wenn man ihn so sieht, k\u00f6nnte man tats\u00e4chlich meinen, er sei ein Relikt aus \u00e4lteren Zeiten. Dieses Dasein kultiviert er, schon in seiner Sprache finden sich so einige \u00dcberbleibsel, die man charmant finden muss.<\/p>\n

“Pass auf”, sagte er, “ich werde es dir beweisen, und zu diesem Behufe werde ich dir eine Geschichte erz\u00e4hlen.” Das war auch so eine von seinen Angewohnheiten, Worte zu verwenden, von denen er sicher sein konnte, dass er der Einzige war, der sie noch im Repertoire hatte.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Preising beginnt also zu erz\u00e4hlen. Von seinem Erbe, dem hoffnungslos antiquierten Telekommunikationsunternehmens seines Vaters, das nur mithilfe des Kollegen Prodanovic und der Erfindung der CBC-Schaltungen gerettet werden konnte. Und von eben diesem Prodanovic, der ihn in den Urlaub geschickt hatte. Das tat er \u00f6fter, wenn wichtige Entscheidungen in der Firma zu treffen waren, Preising war vielmehr das repr\u00e4sentative Aush\u00e4ngeschild, da Prodanovic sich selbst f\u00fcr ungeeignet hielt.<\/p>\n

Das Balkanhafte sei die Verk\u00f6rperung der Instabilit\u00e4t, die es um jeden Preis als Eindruck zu vermeiden galt.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Er schickt Preising also nach Tunesien, in ein h\u00fcbsches Resort in der W\u00fcste, einer Berbersiedlung nachempfunden oder “dem, was sich der von der Marktforschung errechnete typische Tunesientourist der Premiumklasse unter einer typischen Berbersiedlung vorstellt<\/em>.” Schon auf der Fahrt dorthin wird er Zeuge einer au\u00dfergew\u00f6hnlichen Begebenheit. Mitten in der W\u00fcste war ein Reisebus voller Touristen mit einer Horde Kamele zusammengeprallt. Die verenden nun in der hei\u00dfen W\u00fcstensonne, w\u00e4hrend der Kameltreiber sich voller Verzweiflung \u00fcber seine Tiere wirft und die Touristen dem Schauspiel hilflos zusehen. Auch Preising wei\u00df nicht, was er tun soll, zieht sich in den Wagen zur\u00fcck, der ihn zum Thousand and One Night Resort<\/em> bringen soll und liest die Financial Times. In der wieder von der Finanzkrise die Rede ist, die bedrohliche Ausma\u00dfe anzunehmen beginnt. Preising errechnet, das er genug Geld h\u00e4tte, um die Existenz des Kameltreibers zu retten, der mit seinen Kamelen auch seine Lebensgrundlage verloren hat, aber wie sein Zuh\u00f6rer uns verr\u00e4t, fand Preising immer Gr\u00fcnde daf\u00fcr, nicht zu handeln und passiv zu bleiben.<\/p>\n

Im Resort selbst verlebt er einen recht annehmlichen Urlaub, er lernt eine h\u00fcbsche Frau kennen, mit der er sich gelegentlich \u00fcber Literatur austauscht – denn zuf\u00e4llig haben sie beide gerade dieselbe Lekt\u00fcre – und mit deren Mann er in die W\u00fcste f\u00e4hrt, um einige Vielkammerbauten<\/a> zu besichtigen. Er nimmt an einer Hochzeit teil und die Stimmung ist ausgelassen – bis zu dem Punkt, als der britische Finanzmarkt kollabiert. Im Resort sind zahlreiche junge Finanzunternehmer, B\u00f6rsianer und Spekulanten, deren Kreditkarten pl\u00f6tzlich gesperrt und die somit unf\u00e4hig werden, ihren Luxusurlaub zu bezahlen. Sie verlieren reihenweise ihre Jobs und sitzen, weil aufgrund ausstehender Rechnungen weder Taxis fahren noch Fl\u00fcge gehen, am Pool des Resorts fest. Und an diesem Pool bricht das Chaos aus, die Barbarei<\/em>.<\/p>\n

Ich klappe das Buch begeistert und noch immer ganz verliebt zu. Die Sprache ist ein Genuss, die unterschwellig mitschwingende Ironie das Sahneh\u00e4ubchen obenauf. Preising ist mir als anachronistischer Unternehmer, geworfen in einen h\u00f6chst aktuellen Konflikt, und in seiner Handlungsunf\u00e4higkeit dennoch so sympathisch, dass ich mehr von ihm h\u00e4tte h\u00f6ren wollen. Die beiden \u00e4lteren Herren spazieren auf dem Gel\u00e4nde einer Psychiatrie. Der Novelle ist ein Interview mit Jonas L\u00fcscher vorangestellt, in dem er zu diesem Umstand das Folgende sagt:<\/p>\n

L\u00fcscher<\/strong>: Die Psychiatrie steht f\u00fcr meine hoffnungsvollen Tage, f\u00fcr meinen Glauben an die Best\u00e4ndigkeit bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. In meiner Novelle hat offenbar so etwas wie ein egalit\u00e4res Gesundheitssystem den Zusammenbruch des Finanzsystems \u00fcberlebt. Preising und sein Gef\u00e4hrte, obwohl aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten, werden in derselben Klinik betreut und ihre psychischen Probleme werden ernst genommen. Das ist das positivste Bild, das ich finden konnte. Mehr Hoffnung habe ich nicht. Aber das ist doch auch schon was.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Ein absolut herausragendes und gro\u00dfartiges Deb\u00fct! Ich hoffe, ich werde in Zukunft noch mehr von Jonas L\u00fcscher h\u00f6ren.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Jonas L\u00fcscher ist ein schweizerischer Schriftsteller. Er machte eine Ausbildung zum Primarschullehrer in Bern und studierte an der Hochschule f\u00fcr Philosophie in M\u00fcnchen. Heute arbeitet er als Doktorand am Lehrstuhl f\u00fcr Philosophie an der ETH Z\u00fcrich. Fr\u00fchling der Barbaren ist sein Deb\u00fct; eine Novelle. Dieses schmale B\u00fcchlein war f\u00fcr mich stilistisch und inhaltlich eine durch und durch positive \u00dcberraschung. Von au\u00dfen vermutet man gar nicht, was alles in ihm steckt, – f\u00fcr mich eine Perle, die sich zu lesen lohnt! Schon mit der Erz\u00e4hlperspektive beginnt es, die L\u00fcscher sehr geschickt konstruiert. Im Grunde gibt es zwei Erz\u00e4hler, den alternden Preising, ein Schweizer Unternehmer, um dessen kleine Geschichte es geht und seinen Zuh\u00f6rer, der in der Ich-Form \u00fcber den Spaziergang mit Preising berichtet. Dieser kleine Kniff l\u00e4sst eine fast filmische Atmosph\u00e4re entstehen, die mich vom ersten Satz an sofort in die Geschichte gezogen hat. “Nein”, sagte Preising, “du stellst die falschen Fragen”, und um seinem Einwand Nachdruck zu verleihen, blieb er mitten auf dem Kiesweg stehen. Eine Angewohnheit, die ich nicht ausstehen konnte, denn dergestalt glichen …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":1939,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[839],"tags":[888,976,1089,1561],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2013\/02\/9783406646942_large.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1938"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=1938"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1938\/revisions"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/1939"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=1938"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=1938"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=1938"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}