{"id":1323,"date":"2012-10-15T16:04:29","date_gmt":"2012-10-15T16:04:29","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=1323"},"modified":"2012-10-15T16:04:29","modified_gmt":"2012-10-15T16:04:29","slug":"emmanuel-carrere-limonow","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2012\/10\/emmanuel-carrere-limonow\/","title":{"rendered":"Emmanuel Carr\u00e8re – Limonow"},"content":{"rendered":"

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Emmanuel Carr\u00e8re<\/a>\u00a0ist ein franz\u00f6sischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmproduzent. Carr\u00e8re ist der Sohn der Historikerin H\u00e9l\u00e8ne Carr\u00e8re d’Encausse, die sich auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion spezialisiert hat. Carr\u00e8re hat bereits einige B\u00fccher ver\u00f6ffentlicht – unter anderem \u00fcber Werner Herzog<\/a> und Philipp K.Dick<\/a> – und war 2010 Jurymitglied bei den Fimfestspielen in Cannes. Seine Geschichte La Classe de neige<\/em> (“Schneetreiben”), die einen v\u00e4terlichen M\u00f6rder zum Protagonisten macht, wurde 1998 verfilmt.<\/p>\n

Mutma\u00dflich wird den wenigsten in Westeuropa Eduard Limonow (der eigentlich Eduard Wenjaminowitsch Sawenko<\/em> hei\u00dft) etwas sagen. Dem einen oder anderen f\u00e4llt m\u00f6glicherweise sein provokanter und autobiographischer Roman\u00a0Fuck off, America<\/em>\u00a0ein, der mittlerweile der einzige ist, den man noch f\u00fcr annehmbares Geld und ohne gr\u00f6\u00dfere Schwierigkeiten erwerben kann. Limonow, dessen erdachter Name eine Zusammensetzung aus dem russischen Wort f\u00fcr Zitrone, limon<\/em> und Handgranate, limonka<\/em> ist, ist ein Provokateur. Vielleicht sowas wie ein russischer Salinger, ein Ginsberg oder ein Kerouac, blo\u00df, dass er sich diesen Kategorisierungen vermutlich immer verweigern w\u00fcrde.<\/p>\n

Geboren wurde er 1942 in einem kleinen ukrainischen Dorf namens Dserschinsk. Sein Vater war ein Offizier, seine Mutter Hausfrau. Es gab nichts, was ihn von irgendeinem anderen russischen Jungen der Provinz in diesen Zeiten unterschieden h\u00e4tte. Er bewunderte seinen Vater und w\u00fcnschte sich, selbst irgendwann ein heldenhafter Mann des Milit\u00e4rs zu werden, sp\u00e4ter sollte er sich immer wieder einen Scherz daraus machen, zu erz\u00e4hlen, sein Vater habe beim KGB gearbeitet. Doch es sollte mit Eduard deutlich anders kommen. Schon in jungen Jahren wurde er Dichter und begann, sich in den entsprechenden Kreisen zu bewegen. Das jedoch niemals, ohne eine gewisse Arroganz. Mitte der 60er-Jahre zieht er nach Moskau, weil er der festen \u00dcberzeugung ist, all die Dissidenten und Lyriker und zweitklassiken Maler Charkows – der Stadt, in die er mit seinen Eltern gezogen war – \u00fcberholt zu haben.<\/p>\n

Es war die Zeit, zu der Alexander Solschenizyn Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch<\/em> ver\u00f6ffentlichte und damit einer breiten \u00d6ffentlichkeit Einblick in eine Zeit des Stalinismus gab, \u00fcber die man lange Zeit nicht gesprochen hatte, die man nicht wahrhaben wollte. Es erz\u00e4hlte, lakonisch und v\u00f6llig frei von literarischen Schn\u00f6rkeln, den Tagesablauf des Iwan Denissowitsch in einem sowjetischen Gulag. \u00a0Wie Carr\u00e8re schreibt, gab es mehrere Seiten des Moskauer Literaturbetriebs.<\/p>\n

Da gab es die Offiziellen des Literaturbetriebs. Die Seeleningenieure, wie Stalin die Schriftsteller einmal genannt hatte. Die linientreuen Realsozialisten. Die Kohorte der Scholochows, Fadejews und Simonows mit ihren Wohnungen, Datschas, Auslandsreisen, ihren Zug\u00e4ngen zu Shops f\u00fcr Parteibonzen, mit ihren gesammelten Werken in Hardcoverausgaben, Millionenauflagen und Auszeichnungen mit dem Leninpreis. Aber selbst diese Privilegierten konnten nicht ein Huhn schlachten und danach seine Eier haben wollen. Was sie an Komfort und Sicherheit gewannen, verloren sie an Selbstachtung. In der heroischen Gr\u00fcnderzeit des Sozialismus mochten sie noch an das geglaubt haben, was sie schrieben, und stolz gewesen sein auf das, was sie waren, doch zu Zeiten Breschnews, w\u00e4hrend des lauen Sozialismus der Nomenklatura, konnte man sich solchen Illusionen nicht mehr hingeben. Sie wussten sehr wohl, dass sie einem verdorbenen Regime dienten und ihre Seele verkauft hatten – und dass es die anderen auch wussten. Solschenizyn, ihrer aller schlechtes Gewissen, bemerkte dazu: Einer der zerst\u00f6rerischsten Aspekte des sowjetischen Systems war, dass man nicht ehrlich sein konnte, ohne ein M\u00e4rtyrer zu werden.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Es gab aber auch den Moskauer Underground, in dem sich Limonow zuhause f\u00fchlte. In dem ein wahrer K\u00fcnstler noch die Armut kannte, \u00fcber die er schrieb, den Wahnsinn, die Sucht und all diese existentiell bedrohlichen Lebenswirklichkeiten, die einen das Leben erst kennenlernen lassen. Auch Limonow lebt in Armut, l\u00e4sst sich von einer \u00e4lteren Frau aushalten, die er nur m\u00e4\u00dfig attraktiv findet – ja, er wird sie sogar heiraten. Es wird zu einer beruhigenden Regelm\u00e4\u00dfigkeit in Eduards Leben, nach einigen Jahren der festen \u00dcberzeugung zu sein, er habe alle k\u00fcnstlerischen Kreise seines Umfelds bereits \u00fcberfl\u00fcgelt und m\u00fcsse sich nun auf die Suche nach H\u00f6herem begeben. H\u00f6heres meint er damals in New York zu finden. Damals war das in der Sowjetunion allerdings eine folgenschwere Entscheidung.<\/p>\n

F\u00fcr uns, die wir gehen und kommen und nach Belieben Flugzeuge nehmen, ist es schwer zu verstehen, dass die Vokabel “emigrieren” \u00a0f\u00fcr einen B\u00fcrger der Sowjetunion eine Reise ohne Wiederkehr bezeichnete. Es ist schwer f\u00fcr uns, diese zwei Worte zu begreifen, die einfach sind wie das Heben und Senken einer Axt: f\u00fcr immer. Ich spreche hier nicht von \u00dcberl\u00e4ufern, von K\u00fcnstlern die Nurejew und Baryshnikov, die w\u00e4hrend einer Auslandstournee um politisches Asyl baten, denjenigen, von denen man im Westen sagte, sie h\u00e4tten “die Freiheit gew\u00e4hlt”, w\u00e4hrend man sie in der Prawda als “Vaterlandsverr\u00e4ter” beschimpfte. Ich spreche von Leuten, die ganz legal emigrierten. Das war, auch wenn es schwierig blieb, in den siebziger Jahren m\u00f6glich geworden; doch jeder, der einen solchen Ausreiseantrag stellte, wusste, dass er im Falle einer Bewilligung nie wieder w\u00fcrde zur\u00fcckkehren k\u00f6nnen.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Und so reiste Eduard mit seiner Freundin Elena nach New York, in der festen \u00dcberzeugung, nie mehr in seine Heimat zur\u00fcckzukehren. Dort wurde er zun\u00e4chst in die h\u00f6heren Kreise der Kultur und Kunst eingef\u00fchrt, fand sich pl\u00f6tzlich auf Partys wieder, auf denen auch Truman Capote das ein oder andere Glas hob, doch nach kurzer Zeit stellte er fest, dass es schwerer war als er dachte, schriftstellerisch in einer Stadt wie New York Fu\u00df zu fassen. Er sackte immer weiter ab, trank – selbst f\u00fcr einen Russen – gelegentlich ungew\u00f6hnlich viel und hatte mit M\u00fch und Not eine \u00dcbersetzerstelle bei einer Zeitung ergattert, die f\u00fcr russische Immigranten schrieb. (oder eben Artikel aus amerikanischen Zeitschriften ins Russische \u00fcbersetzte) In dieser Zeit, in erb\u00e4rmlichen Absteigen und Hotels, zwischen Dealern, Huren und Zuh\u00e4ltern entstand Fuck off, America<\/em>.<\/p>\n

Doch die Schriftstellerei ist nicht alles, was Limonow umtreibt. Es ist auch die Politik. Er stellt sich – und das macht Carr\u00e8re deutlich – immer auf Seiten der Minderheiten. Dabei ist es vollkommen egal, welcher politischen Gesinnung diese Minderheiten sind, ob rechts oder links, er hasst den Konformismus, er blickt trotz allem noch immer zu Stalin auf, er verehrt Trotzki f\u00fcr dessen Ansicht, ”\u00a0per definitionem h\u00e4tten die Sieger recht und die Besiegten unrecht und letztere geh\u00f6rten auf den Abfallhaufen der Geschichte<\/em>.” Vieles von dem, was sich in Limonows Kopf abspielt, ist nicht eben sympathisch zu nennen. Er wird noch viele Stationen in seinem Leben durchlaufen. Er wird als Butler bei einem Milliard\u00e4r arbeiten, er wird dabei sein, als 1993 Putschisten versuchen, Jelzin abzusetzen, er wird die Nationalbolschewistische Partei mit Alexander Dugin aufbauen, die mehrmals wegen rassistischer \u00c4u\u00dferungen und Fantasien einen gro\u00dfrussischen Reichs unter Beobachtung stand und schlie\u00dflich 2005 verboten wurde.<\/p>\n

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Limonow auf einer Kundgebung der NBP<\/em><\/p>\n

Er zog sich ins Altaigebirge zur\u00fcck, um dort mit einigen Parteigenossen der Natur n\u00e4her zu kommen und zu meditieren, bis er dort verhaftet und wegen terroristischer Umtriebe in das Lefortowo-Gef\u00e4ngnis \u00fcberf\u00fchrt wurde. Im Jugoslawienkrieg k\u00e4mpfte er an der Seite der Serben. Insgesamt ist Eduard Limonow nicht unbedingt eine streitbare, eher eine indiskutable Gestalt. Und dennoch geht von seinem Leben etwas derart Prosaisches aus und von seiner Person etwas, trotz aller Verirrungen doch irgendwie Aufrichtiges, dass ich Emmanuel Carr\u00e8re in seiner Absicht, ein Buch \u00fcber diesen Mann zu schreiben – den er mehrfach pers\u00f6nlich traf – nur v\u00f6llig nachvollziehen.<\/p>\n

Carr\u00e8re schreibt nicht nur Limonows Geschichte. Er schreibt eine kleine Geschichte Russlands, \u00fcber den Zusammenbruch der Sowjetunion, Glasnost und Perestroika, \u00fcber Putschversuche, \u00fcber die kl\u00e4glichen Ans\u00e4tze, einen westlich gepr\u00e4gten Markt in Russland einzuf\u00fchren, \u00fcber Putin und wie er letztlich an die Macht gelangte. Neben aller Verwunderung \u00fcber Limonow, neben dem F\u00fcnkchen Faszination f\u00fcr ein Leben, das klingt, als sei es einem Buch entsprungen, lernt man auch noch ein wenig dar\u00fcber, was ihn – und viele andere – m\u00f6glicherweise genau so hat werden lassen. Man findet ihn danach mitnichten sympathischer! Aber man empfindet etwas anders<\/em>.<\/p>\n

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