{"id":12892,"date":"2020-09-29T16:28:27","date_gmt":"2020-09-29T14:28:27","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12892"},"modified":"2020-09-30T12:42:41","modified_gmt":"2020-09-30T10:42:41","slug":"klassikerlesen-mit-cornelsen-jugend-ohne-gott","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2020\/09\/klassikerlesen-mit-cornelsen-jugend-ohne-gott\/","title":{"rendered":"#klassikerlesen mit Cornelsen: Jugend ohne Gott."},"content":{"rendered":"\n

Auf Instagram<\/a> habe ich es angek\u00fcndigt: Ich m\u00f6chte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag<\/em>, mit ausgew\u00e4hlten Klassikern besch\u00e4ftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich l\u00e4ngst h\u00e4tte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lekt\u00fcre ver\u00e4ndert, wenn es eine neuerliche Lekt\u00fcre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich fr\u00fcher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen?<\/strong><\/p>\n

Mein altes Suhrkamp-Exemplar von \u201eJugend ohne Gott\u201c stammt mutma\u00dflich von irgendeinem B\u00fccherflohmarkt. Es steht seit Jahren \u2013 ich muss es zugeben \u2013 ungelesen in meinem Regal. In dem Bewusstsein, dass es ein Buch ist, das man kennen und gelesen haben m\u00fcsste. Als ich es in einer Kiste auf dem Flohmarkt fand, kannte ich den Namen \u00d6d\u00f6n von Horv\u00e1th, auch \u201eJugend ohne Gott\u201c war mir als Titel ein Begriff, ohne viel dar\u00fcber zu wissen. Vor diesem Hintergrund habe ich gern zugestimmt, f\u00fcr Cornelsen diesen Klassiker zu lesen. Keine Re-Lekt\u00fcre diesmal, sondern eine Erstlekt\u00fcre, f\u00fcr die ich, so viel darf ich spoilern, dankbar bin.<\/p>\n

Worum geht\u2019s also, von der gottlosen<\/i> Jugend abgesehen? Im Mittelpunkt des Romans steht ein namenloser Lehrer in seinen 30ern. Er unterrichtet an einem St\u00e4dtischen Gymnasium (auf em man Arbeiterkinder vergeblich sucht) Geschichte und Geografie. Zu Beginn des Romans korrigiert er gerade die Aufs\u00e4tze zum Thema: \u201eWarum brauchen wir Kolonien\u201c? Die Sch\u00fcler ergehen sich \u00fcberwiegend im Propaganda-Duktus des \u201eRadios\u201c (also: des \u201eVolksempf\u00e4ngers\u201c nach Goebbels) \u00fcber das Volksganze und die Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen (zu Horvaths Zeiten war der Begriff Neger<\/i> noch in v\u00f6llig unkritischer Verwendung, Cornelsen macht das mit einer Seitenbemerkung kenntlich; wenn ich ihn im Folgenden aus dem Roman einmalig zitiere, geschieht das, weil ich den Originaltext zitiere \u2013 es steht au\u00dfer Frage, dass der Begriff heute unzul\u00e4ssig<\/strong> und indiskutabel<\/strong> ist!). Obwohl der Lehrer mehrmals zu kritisieren ansetzt, entscheidet er sich dazu, die ungeheuerlichen \u00c4u\u00dferungen der Sch\u00fcler unkommentiert zu lassen. \u201eWas einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen\u201c, hei\u00dft es. Wie unschwer zu erkennen ist, befinden wir uns in einer Diktatur, genauer: in der NS-Zeit. Das Erscheinungsdatum des Romans d\u00fcrfte sich also mit der Zeit der Romanhandlung weitgehend decken.<\/p>\n

Unser Lehrer ist ein Mitl\u00e4ufer, kein strammer Parteig\u00e4nger, aber einer, der sich den Umst\u00e4nden f\u00fcgt, selbst wenn er sie nicht vollumf\u00e4nglich guthei\u00dft. Tats\u00e4chlich blickt er mit Sorge und Skepsis auf die Generation im Klassenzimmer: \u201eDass diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, war zwar noch nicht so schlimm. Schlimmer ist schon, wie sie es ablehnen, n\u00e4mlich: ohne es zu kennen. [\u2026] Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, R\u00e4der, Kolben, Riemen \u2013 doch noch lieber als Maschinen w\u00e4ren sie Munition. [\u2026] Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubert\u00e4t.\u201c Horv\u00e1ths Lehrer beschreibt eine Generation, die in einer Bewegung aufgeht, die R\u00e4dchen sein will im gro\u00dfen ideologischen Getriebe und die daf\u00fcr \u2013 in kopflos-naiver Heldenverehrung \u2013 alles zu opfern bereit ist. Es ist nicht nur eine Generation, die den Ersten Weltkrieg nicht erlebt hat und deren romantisierte Kriegsvorstellung mithin von der Realit\u00e4t unangetastet blieb, es ist auch eine Generation, f\u00fcr die die nationalsozialistische Propaganda allgegenw\u00e4rtig ist.<\/p>\n

\"\"<\/a>

Die Markierung entstammt der Flohmarktausgabe und ist nicht von mir. Trotzdem spannend, was andere so markieren.<\/p><\/div>\n

In einer Geografiestunde \u00e4u\u00dfert der Lehrer den folgenschweren Satz: Auch die Neger sind doch Menschen<\/i>. Das bringt ihm nicht nur den Spott seiner Sch\u00fcler, sondern auch den Zorn einiger Eltern ein, die als \u00fcberzeugte Nationalsozialisten geradezu schockiert von solchen Ansichten sind (es ist wahrhaftig nicht so als h\u00e4tte der Lehrer eine humanistische Lehrstunde abgehalten, Horv\u00e1th schreibt hier keine Heldenfigur). Und dennoch: Prompt wirft ihm sein Vorgesetzter \u201eHumanit\u00e4tsduselei\u201c vor, die \u201eunschuldige Kinderseelen\u201c unterh\u00f6hlt. Schule hat l\u00e4ngst nicht mehr den Auftrag, Kinder zu bilden, sie hat den Auftrag, Kinder propagandagem\u00e4\u00df zu formen. Das hei\u00dft in diesem Fall: Sie zu kriegswilligen oder obrigkeitsh\u00f6rigen Soldaten zu erziehen. Der Lehrer zieht aus der angedrohten Disziplinarstrafe nicht etwa den Schluss, an dieser Erziehung nicht mehr teilzuhaben. Er will ihnen den Erfolg nicht g\u00f6nnen, ihn ruiniert zu haben. \u201eW\u00fcrd euch so passen\u201c, denkt er sich, \u201eich werde euch von nun ab nur mehr erz\u00e4hlen, dass es keine Menschen gibt au\u00dfer euch [\u2026].\u201c Tja nun. Kann man so machen, ist aber diskutabel.<\/p>\n

An Ostern f\u00e4hrt der Lehrer mit seinen Sch\u00fclern ins \u201eZeltlager\u201c. Sie fahren nicht in die Ferien, vielmehr dient das Zeltlager der vormilit\u00e4rischen Erziehung. Dort wird der Umgang mit der Waffe ge\u00fcbt, das Marschieren, das Exerzieren, der Gruppenzusammenhalt wird gest\u00e4rkt \u2013 so \u00e4hnlich, wie es auch heute Rechtsextremist*innen in ihren Sommercamps und Zeltlagern tun<\/a>. Im Camp kommt es zu einem Verbrechen: der Sch\u00fcler N. wird erschlagen aufgefunden. Er war zuvor mit einem Mitsch\u00fcler in Streit geraten, weil er Tagebuch im Zelt schrieb und den anderen beim Schlafen st\u00f6rte. Schnell f\u00e4llt der Verdacht auf diesen Mitsch\u00fcler; auch ein M\u00e4dchen, das sich mit Diebst\u00e4hlen \u00fcber Wasser h\u00e4lt, ger\u00e4t in den Fokus. Tats\u00e4chlich wird aber auch der Lehrer in die Vorkommnisse verwickelt. Er hat heimlich das Tagebuch des Jungen gelesen, es wird mit offenem Siegel gefunden. Die Frage, die ein Gerichtsprozess nun zu kl\u00e4ren hat, lautet: Wer hat N. ermordet? Wer hat sein Tagebuch gelesen? Zu Beginn scheint die eine Frage noch mit der anderen zusammenzuh\u00e4ngen, allerdings wissen wir durch den tagebuchartigen, perspektivisch auf den Lehrer fokussierten Stil des Textes, dass er vermutlich nicht der T\u00e4ter ist.<\/p>\n

Vor dem Hintergrund dieses Mordes zeichnet Horv\u00e1th das Bild verrohter, ideologisch verblendeter und gleichg\u00fcltiger Menschen. Trotzdem Gott sowohl im Titel als auch im Roman immer wieder Erw\u00e4hnung findet, geht es hier nicht um eine religi\u00f6se Fr\u00f6mmigkeit, die den Jugendlichen fehlt. Am Schluss hei\u00dft es: \u201eDenn Gott ist die Wahrheit\u201c (Anspielung auf Johannes, 14,6). Es fehlt den Jugendlichen (bis auf wenige Ausnahmen) der Mut, f\u00fcr die Wahrheit einzutreten. Es fehlt der Mut, sich nicht von Propaganda und Hass vereinnahmen zu lassen. Horv\u00e1ths Lehrer trifft f\u00fcr sich vor Gericht eine Entscheidung. Das macht ihn nicht zum Helden, aber zu einer Figur, die nicht mehr nur R\u00e4dchen im Getriebe ist. Horv\u00e1ths Roman ist nicht etwa pauschale Abrechnung mit \u201eder Jugend\u201c, sondern die klare Darstellung eines bestimmten Menschentyps, ohne den keine Diktaturen errichtet und erhalten werden: \u201eWenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit und die L\u00fcge kommt.\u201c Nicht umsonst gibt Horv\u00e1th seinen Sch\u00fclern keine vollst\u00e4ndigen Namen. Sie bleiben Buchstaben oder sie hei\u00dfen \u201eOtto N.\u201c, sie stehen pars pro toto<\/em> f\u00fcr eine Haltung und eine Gesinnung.<\/p>\n

\"\"<\/a><\/p>\n

Horv\u00e1ths Stil ist schmucklos, in einigen Passagen bewusst umgangssprachlich. Und doch entfaltet er eine unheilvolle Kraft: m\u00f6glicherweise auch vor dem Hintergrund gegenw\u00e4rtiger gesellschaftlicher Entwicklungen. In den letzten Monaten gab es mehr als eine Gelegenheit, sich die Mitl\u00e4ufer*innen anzusehen, deren Schulterschluss mit politischem Extremismus mindestens sie selbst nicht im Geringsten zu st\u00f6ren scheint. Man konnte sich Mitt\u00e4ter*innen ansehen, die teilhaben an der Verbreitung von L\u00fcgen, Hetze und Propaganda. Horvaths Roman ist nicht veraltet, kann nicht veraltet sein in einer Zeit, in der Menschen wieder von Volk, Einigkeit und Heimat schwadronieren, w\u00e4hrend sie anderen ihre Grundrechte absprechen.<\/p>\n

Als 1937 \u201eJugend ohne Gott\u201c im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange erscheint, ist der \u00f6sterreich-ungarische Schriftsteller f\u00fcr die Nationalsozialisten l\u00e4ngst persona non grata. Hatte er 1934 noch in existenzsichernder Absicht versucht, in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller<\/i> aufgenommen zu werden (was ihm viel Kritik seitens einiger Schriftstellerkollegen eingetragen hat), wird er 1936 aus Deutschland ausgewiesen, seine B\u00fccher und St\u00fccke d\u00fcrfen nicht mehr verkauft oder aufgef\u00fchrt werden. Horv\u00e1th reist nach Ungarn, \u00fcber Triest und Z\u00fcrich nach Amsterdam, bekommt schlie\u00dflich eine Einreisegenehmigung f\u00fcr die Vereinigten Staaten. Zur Emigration in die USA sollte es nicht mehr kommen. Horv\u00e1th wird 1938 in Paris w\u00e4hrend eines Gewitters von einem herabst\u00fcrzenden Ast erschlagen.<\/p>\n

Lest Horv\u00e1th. Verfilmungen gibt es \u00fcbrigens auch einige, zuletzt eine aus dem Jahr 2017, die die Themen des Romans in ein aktuelles Szenario \u00fcbertr\u00e4gt. Kritiker bem\u00e4ngeln nicht nur den vergleichsweise geringen Bezug zur Buchvorlage, sondern auch das Vers\u00e4umnis, den gegenw\u00e4rtigen Rassismus und Rechtsextremismus zum Thema zu machen. W\u00e4re ja eigentlich eine Steilvorlage gewesen. <\/p>\n