{"id":12864,"date":"2020-08-14T20:15:40","date_gmt":"2020-08-14T18:15:40","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12864"},"modified":"2020-08-14T21:30:58","modified_gmt":"2020-08-14T19:30:58","slug":"klassikerlesen-mit-cornelsen-die-verwandlung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2020\/08\/klassikerlesen-mit-cornelsen-die-verwandlung\/","title":{"rendered":"#klassikerlesen mit Cornelsen: Die Verwandlung"},"content":{"rendered":"\n

Auf Instagram<\/a> habe ich es angek\u00fcndigt: Ich m\u00f6chte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag<\/em>, mit ausgew\u00e4hlten Klassikern besch\u00e4ftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich l\u00e4ngst h\u00e4tte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lekt\u00fcre ver\u00e4ndert, wenn es eine neuerliche Lekt\u00fcre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich fr\u00fcher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen?<\/strong><\/p>\n

Kafka ist nicht einfach nur Kafka. Kafka ist Popkultur. Kafka ist Gegenstand von Memes, Comic Strips, Serien und Karikaturen, die besonders h\u00e4ufig Bezug auf \u201eDie Verwandlung\u201c nehmen \u2013 fast so, als sei Kafka mittlerweile untrennbar mit K\u00e4fern verbunden. Kafkaesk<\/i> ist ein Begriff f\u00fcr das unerkl\u00e4rlich Absurde und komplexe Machtstrukturen, die in vielen seiner Texte Einfluss auf die Geschicke der Protagonisten nehmen, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Der Duden f\u00fchrt als Synonym zu kafkaesk<\/i> den Begriff unheimlich <\/i>und obwohl das sicherlich zutrifft, ist es nur die halbe Geschichte. Kafkas Erz\u00e4hlungen und Romane sind keine Gruselgeschichten, in ihnen steckt immer eine existentielle Ohnmacht, ein namenloses Grauen, wie ein Schatten, den man nur im Augenwinkel sieht \u2013 denn eigentlich sieht alles ganz normal aus.<\/p>\n

 <\/p>\n

\"\"<\/a>

\u00a9 Bernd Zeller, 2012<\/p><\/div>\n\n\n\n

So auch in \u201eDie Verwandlung\u201c, einer Erz\u00e4hlung, die Kafka 1912 schreibt. Im Mittelpunkt steht Gregor Samsa, der eines Morgens \u201eaus unruhigen Tr\u00e4umen\u201c unerkl\u00e4rlicherweise nicht als Mensch, sondern als K\u00e4fer erwacht. Samsa ist Handlungsreisender, Vertreter f\u00fcr Stoffe und er soll an diesem Morgen eigentlich wieder in den Zug steigen. W\u00e4hrend er sich noch langsam mit seinem neuen K\u00f6rper und dessen Funktionsweise vertraut macht, klopft es an seiner Zimmert\u00fcr. Es ist die Mutter, die sich nach seinem Befinden erkundigt; ihm sei nicht wohl, antwortet Gregor. Nur wenig sp\u00e4ter erscheinen auch der Vater und der firmeneigene Prokurist vor der T\u00fcr, um auf Samsa einzuwirken. Obwohl er in seiner Zeit als Vertreter niemals krank war, wird ihm nun unterstellt, er w\u00fcrde simulieren und sich vor der Arbeit dr\u00fccken wollen. Da die Zimmert\u00fcr verschlossen ist, kann sich niemand ein Bild von der tats\u00e4chlichen Lage machen und als es Gregor schlie\u00dflich gelingt, mit seinem K\u00e4ferk\u00f6rper die T\u00fcr zu \u00f6ffnen, sind alle Beteiligten starr vor Schreck. Gregors Schwester Grete ist zun\u00e4chst die einzige, die ihre (Ab)Scheu \u00fcberwindet und dem Bruder Essen bringt. Um ihr seinen Anblick zu ersparen, huscht Gregor stets unter ein Kanapee, wenn sie den Raum betritt. Er nimmt seine Umwelt wahr wie zuvor, umgekehrt aber scheinen alle Br\u00fccken abgebrochen.<\/p>\n

\"\"<\/a>

Ein K\u00e4fer auf Freuds Couch, \u00a9 Jir\u00ed Sl\u00edva<\/p><\/div>\n\n\n\n

Fungiert Grete zu Beginn noch als Verb\u00fcndete (sie versorgt ihren Bruder mit dem N\u00f6tigsten und putzt sein Zimmer), kippt das Verh\u00e4ltnis nach einem Streit und einer Verletzung Gregors schlie\u00dflich in die Gleichg\u00fcltigkeit. Gregor hat in Menschengestalt mit seinem Beruf die Familie versorgt und mit seiner unfreiwilligen Metamorphose verschieben sich nun zwangsl\u00e4ufig die Koordinaten. In eine anscheinend normal funktionierende Welt ist pl\u00f6tzlich ein grotesker Vorfall hereingebrochen, der sich weder erkl\u00e4ren noch r\u00fcckg\u00e4ngig machen l\u00e4sst. Gregor stirbt (Spoiler Alert) am Ende vereinzelt, ausgesto\u00dfen, entfremdet. Man k\u00f6nnte \u00c4hnliches \u00fcber den \u201emodernen Menschen\u201c sagen, wie er zum Zeitpunkt von Kafkas Erz\u00e4hlung verstanden wurde. Die Lebenswelt vieler Menschen \u00e4nderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend und diese fundamentalen Ver\u00e4nderungen betrafen nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch private Familienstrukturen oder die eigene Identit\u00e4t. Es gibt diverse Interpretationsans\u00e4tze der Verwandlung Gregor Samsas, begonnen bei dem bekannten Konflikt zwischen Kafka und seinem Vater (nachzulesen in Brief an den Vater<\/a>) bis hin zu den ausbeuterischen Lebensverh\u00e4ltnissen, die Gregor bis zur totalen Selbstaufgabe treiben.<\/p>\n

\"\"<\/a>

\u00a9 Judy Horacek<\/p><\/div>\n\n\n\n

Ich erinnere mich nicht an meine erste Lekt\u00fcre der Verwandlung<\/em>, wohl aber daran, immer fasziniert von Kafkas Erz\u00e4hlungen gewesen zu sein. Oft gar nicht vorrangig davon, was er erz\u00e4hlt, sondern wie er es erz\u00e4hlt und welche Atmosph\u00e4re damit verbunden ist. Kafkas Horror ist ein anderer Horror als der eines Edgar Allen Poe. Kafkas Horror kommt auf leisen Sohlen und ist deshalb nur umso eindringlicher. Kafkas Horror hat kein Gesicht. Gregor Samsa kann sich bei niemandem dar\u00fcber beschweren, was mit ihm geschehen ist. Der Landvermesser in Kafkas Roman Das Schloss<\/em> erreicht niemals das Schloss, um seinen Auftrag auszuf\u00fchren und kann sich bei niemandem dar\u00fcber beklagen. Josef K. in Der Prozess<\/em> wei\u00df nicht, weshalb er verhaftet und vor Gericht gestellt werden soll, “jemand musste Josef K. verleumdet haben”, hei\u00dft es nur lapidar. Wie l\u00e4sst sich gegen eine unsichtbare \u00dcbermacht k\u00e4mpfen? Ich kann behaupten, dass ich mit kurzen Erz\u00e4hlungen im Deutsch-Leistungskurs Kafka-Fan geworden und danach geblieben bin. Wem das Leben hin und wieder absurd erscheint, widersinnig, undurchdringlich oder bizarr, der wird in Kafkas Erz\u00e4hlungen etwas entdecken, das widerhallt. Unsere Welt ist seit 1912 nicht weniger seltsam geworden, im Gegenteil. Die Verwandlung<\/em> ist ein wunderbarer Einstieg. Auf Twitter gibt es \u00fcbrigens einen Gregor-Samsa-Bot<\/a>, der den ersten Satz der Verwandlung <\/em>“Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Tr\u00e4umen erwachte, fand er … .” mit diversen anderen Enden versieht.<\/p>\n

\"\"<\/a>

\u00a9 Franz Kafka interviewing Gregor Samsa and Friend, 1915<\/p><\/div>\n\n\n\n

“Die Verwandlung” ist Teil der Literathek<\/a>: dort erscheinen zahlreiche Klassiker mit Anmerkungen und Glossar sowie wissenswerten Hintergr\u00fcnden zu Werk, Autor*in und Genre.<\/em><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Auf Instagram habe ich es angek\u00fcndigt: Ich m\u00f6chte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag, mit ausgew\u00e4hlten Klassikern besch\u00e4ftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich l\u00e4ngst h\u00e4tte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lekt\u00fcre ver\u00e4ndert, wenn es eine neuerliche Lekt\u00fcre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich fr\u00fcher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen? Kafka ist nicht einfach nur Kafka. Kafka ist Popkultur. Kafka ist Gegenstand von Memes, Comic Strips, Serien und Karikaturen, die besonders h\u00e4ufig Bezug auf \u201eDie Verwandlung\u201c nehmen \u2013 fast so, als sei Kafka mittlerweile untrennbar mit K\u00e4fern verbunden. Kafkaesk ist ein Begriff f\u00fcr das unerkl\u00e4rlich Absurde und komplexe Machtstrukturen, die in vielen seiner Texte Einfluss auf die Geschicke der Protagonisten nehmen, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. Der Duden f\u00fchrt als Synonym zu kafkaesk den Begriff unheimlich und obwohl das sicherlich zutrifft, ist es nur die halbe Geschichte. Kafkas Erz\u00e4hlungen und Romane sind …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12865,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[1903,16],"tags":[2583,2589,1102,2590,834],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2020\/08\/DSCN9324.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12864"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12864"}],"version-history":[{"count":10,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12864\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12880,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12864\/revisions\/12880"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12865"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12864"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12864"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12864"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}