{"id":12846,"date":"2020-04-19T12:11:33","date_gmt":"2020-04-19T10:11:33","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12846"},"modified":"2020-04-19T12:11:34","modified_gmt":"2020-04-19T10:11:34","slug":"klassikerlesen-mit-cornelsen-der-schimmelreiter","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2020\/04\/klassikerlesen-mit-cornelsen-der-schimmelreiter\/","title":{"rendered":"#klassikerlesen mit Cornelsen: Der Schimmelreiter"},"content":{"rendered":"\n

Auf Instagram<\/a> habe ich es angek\u00fcndigt: Ich m\u00f6chte mich in diesem Jahr, in Kooperation mit dem Cornelsen-Verlag<\/em>, mit ausgew\u00e4hlten Klassikern besch\u00e4ftigen. Sowohl mit solchen, die ich in der Schule gelesen habe als auch mit solchen, die ich l\u00e4ngst h\u00e4tte lesen wollen und sollen. Hat sich mein Blick auf die Lekt\u00fcre ver\u00e4ndert, wenn es eine neuerliche Lekt\u00fcre ist? Sehe ich jetzt etwas am Text, das ich fr\u00fcher nicht gesehen habe? Weshalb ist es noch immer lohnenswert, diesen oder jenen Text zu lesen?<\/strong><\/p>\n

Der Regen peitscht \u00fcber irgendeinen Deich. Ihm zu F\u00fc\u00dfen ein Pferd und t\u00fcchtige M\u00e4nner, die irgendwelche notwendigen Reparaturarbeiten ausf\u00fchren (am Deich, nicht am Pferd), die Lage ist angespannt, man br\u00fcllt sich \u00fcber das Tosen des Sturms Anweisungen zu. So oder so \u00e4hnlich ist eine Filmszene aus dem Schimmelreiter in meinem Kopf verankert, die zu einer der drei Verfilmungen (1934, 1977, 1984) von Theodor Storms Novelle geh\u00f6ren muss, die wir wohl in der achten Klasse begleitend zur Lekt\u00fcre gesehen haben. Das ist gut und gern f\u00fcnfzehn Jahre her. Viel mehr war nicht in meinem Ged\u00e4chtnis geblieben, abgesehen vom Namen des Deichgrafen: Hauke Haien. Als ich zur Re-Lekt\u00fcre ansetze, bin ich gespannt, ob ich etwas wiedererkenne oder gar v\u00f6llig \u00fcberraschend Erkenntnisse mitnehme, die mir damals nie gekommen w\u00e4ren. Ich finde sogar die alte Schullekt\u00fcre wieder, die ich nicht weggeworfen habe. Darin ein fr\u00f6hliches Potpourri bunt markierter Textstellen und allerlei Randbemerkungen, die mir vor allem die Intentionen der Figuren erkl\u00e4ren sollen: \u201eabsch\u00e4tzend\u201c etwa oder \u201etritt f\u00fcr seinen Sohn ein\u201c und \u201eaufopferungsvoll\u201c.<\/p>\n

Die Geschichte, die Storm in seiner Novelle niederschreibt, sei kurz umrissen: Hauke Haien, geboren in Nordfriesland, ist ein ziemlich kluger Kopf. Schon als Kind ist er interessiert an Mathematik, er lernt sogar Holl\u00e4ndisch, um ein Buch von Euklid zu lesen, das im v\u00e4terlichen Haushalt nur auf holl\u00e4ndisch zu finden ist. Er w\u00e4chst heran als kleines Wunderkind, das seine eigenen Berechnungen \u00fcber die Haltbarkeit und Stabilit\u00e4t nordfriesischer Deiche anstellt. Und er kommt zu dem Schluss: \u201eUnsere Deiche sind nichts wert.\u201c Freilich schenkt ihm niemand Geh\u00f6r, wo doch altkluge Kinder gemeinhin eher unbeliebt sind und es geht einige Zeit ins Land. Der amtierende Deichgraf Tede Volkerts ist vor allem deshalb auf seinem Posten, weil der in der Familie von Generation zu Generation weitergetragen worden ist, nicht etwa, weil er Ahnung von der Materie h\u00e4tte. Hauke geht ihm schlie\u00dflich zur Hand, bandelt mit seiner Tochter Elke an und verstrickt sich in Rivalit\u00e4ten mit dem Gro\u00dfknecht Ole Peters, der auf Volkerts Hof arbeitet. Mithilfe seiner Frau Elke wird Hauke nach dem Tod von Tede Volkerts Deichgraf und beginnt sehr bald mit der Planung eines neuen, besseren Deiches. Um ihn herum spinnen die abergl\u00e4ubischen Knechte und M\u00e4gde derweil Gespenstergeschichten; vor allem um seinen Schimmel. Der soll eigentlich der Geist eines toten Pferdes sein, das auf der Jevershallig vor der K\u00fcste liegt. Um den Deichgrafen entwickelt sich nach und nach eine etwas d\u00e4monische Aura, auch deshalb, weil er die versponnenen Ideen mancher Nachbarn und Arbeiter nicht teilt. So sind einige der Ansicht, es m\u00fcsse \u201eetwas Lebiges\u201c in den neuen Deich eingearbeitet werden, um ihn haltbar zu machen. In letzter Minute bewahrt Hauke einen Hund davor, unter Lehm und Stroh vergraben zu werden. \u201eEin Kind ist besser noch\u201c, sagt einer, \u201ewenn das nicht da ist, tut’s wohl auch ein Hund.\u201c Nach einiger Zeit stellt Hauke bei einem Ausritt Sch\u00e4den an Teilen des alten Deiches fest, der an einzelnen Stellen noch immer mit dem neuen verbunden ist. Seine Reparaturarbeiten sind, entgegen seines Bauchgef\u00fchls, am Ende provisorischer Natur – und das wird im Zuge einer Sturmflut zur Katastrophe f\u00fchren.<\/p>\n

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Wer den Schimmelreiter liest, wird, so er oder sie nicht zuf\u00e4llig auf einem nordfriesischen Bauernhof am Deich geboren ist, mit einer Menge unbekanntem Vokabular konfrontiert: von Koog \u00fcber Priel bis zu Geest und Fenne. Sich das vorzustellen, ist nicht immer ganz so einfach. Dar\u00fcber hinaus hat Storm eine Konstruktion f\u00fcr seine Novelle gew\u00e4hlt, die mehrere Rahmenhandlungen umfasst. So beginnt der Schimmelreiter mit der Urgro\u00dfmutter Theodor Storms, in deren Haus dieser erste Erz\u00e4hler (mutma\u00dflich Storm) das erste Mal in einem Leseheft auf die Schimmelreitergeschichte st\u00f6\u00dft. In dieser Erz\u00e4hlung gibt es wiederum einen zweiten Erz\u00e4hler, der auf einem Deich unterwegs ist und Bekanntschaft mit einer \u201edunklen Gestalt\u201c macht, die ihm mit flatterndem Mantel auf einem \u201ehochbeinigen hageren Schimmel\u201c entgegen kommt. Sie hat \u201ezwei brennende Augen\u201c und ein \u201ebleiches Antlitz\u201c, alles also ziemlich gruselig. Leser*innen werden sich denken: Ach, das muss der Schimmelreiter sein! Der Erz\u00e4hler kehrt, relativ unbeeindruckt, in ein Wirtshaus ein, wo ihm ein Schulmeister (Erz\u00e4hler Nummer drei) nun die Geschichte von Hauke Haien erz\u00e4hlt. Die Geschichte wird zwischendurch immer mal wieder f\u00fcr eine R\u00fcckkehr ins Wirtshaus unterbrochen, sie springt also zwischen den Erz\u00e4hlebenen hin und her. F\u00fcr die damalige Zeit (1888) war das eine ziemlich innovative Erz\u00e4hltechnik, nicht nur zur Steigerung der Spannung, sondern auch zur Beglaubigung des Erz\u00e4hlten.<\/p>\n

Der Schimmelreiter ist indessen nicht nur eine Gespenstergeschichte (sogar recht wenig, verglichen mit den klassischen Spukgeschichten), deren Ursprung \u00fcbrigens auch mutma\u00dflich nicht an der Nordsee liegt. Erz\u00e4hlt wird vom Konflikt zwischen Tradition und Moderne, Mensch und Natur, Mensch und Mensch. Wenn man so will also \u00fcberzeitliche Themen, die uns heute in anderer Gestalt wieder begegnen. Zwar sind wir heute eine hochgradig modernisierte und individualisierte Gesellschaft, in der die wenigsten noch an gespenstische Erscheinungen glauben und vermutlich nur eine handvoll Menschen noch Hundewelpen in ein Fundament w\u00fcrfen, damit es haltbarer wird. Daf\u00fcr glauben Menschen heute in nicht unerheblicher Zahl an Chemtrails, geheime Eliten, die die Welt zu ihren Gunsten steuern oder die Nahrhaftigkeit von Licht. Der Konflikt zwischen Mensch und Natur ist im Klimawandel und den Bem\u00fchungen, zu einer \u00f6kologisch nachhaltigeren Lebensweise zu finden, noch heute in weit gr\u00f6\u00dferem Umfang virulent als 1888. Und nun: Konflikte zwischen Mensch und Mensch besch\u00e4ftigen die Literatur, seit es die Literatur gibt.<\/p>\n

\u00a0\"\"<\/a><\/p>\n

Es gibt mittlerweile diverse Adaptionen der Schimmelreitergeschichte, auch f\u00fcr Kinder<\/a>. Es gibt eine Graphic Novel<\/a>, Theaterfassungen, Verfilmungen (s.o.). Ich bin mir sicher, dass mir damals im Deutschunterricht n\u00e4hergebracht worden ist, dass Storms Novelle mehr beinhaltet als die Geschichte eines Deich-Nerds, der am Ende tragisch untergeht. Nat\u00fcrlich ist der Schimmelreiter auch ein bisschen norddeutsche Folklore: hagere Friesen, raue See, Eisbo\u00dfeln und Grog. Zwar wohne ich seit mittlerweile 19 Jahren in Norddeutschland, aber ich stamme nicht geb\u00fcrtig aus der Gegend. Vielleicht ist das der Grund, weshalb dieses folkloristische Element bei mir weniger verf\u00e4ngt. Alles in allem war ich erstaunt, wie viel ich vergessen hatte seit Schulzeiten. Und wie schwer mir anfangs doch die Eingew\u00f6hnung in die Sprache fiel \u2013 obwohl die nun wirklich nicht besonders kompliziert ist. Es lohnt sich, Klassiker nochmals zu lesen. In verschiedenen Lebensphasen. Zweifellos habe ich mit 14 oder 15 anders auf diesen Text gesehen. Ich war anders. Und auch die Welt war eine andere.<\/p>\n

Diese Anthologie ist Teil der Literathek<\/a>: dort erscheinen zahlreiche Klassiker mit Anmerkungen und Glossar sowie wissenswerten Hintergr\u00fcnden zu Werk und\/oder Genre.<\/em><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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