{"id":12706,"date":"2019-06-09T19:18:08","date_gmt":"2019-06-09T17:18:08","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12706"},"modified":"2019-06-09T19:18:14","modified_gmt":"2019-06-09T17:18:14","slug":"kurz-knapp-teil-219","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2019\/06\/kurz-knapp-teil-219\/","title":{"rendered":"Kurz & knapp, Teil 2\/19."},"content":{"rendered":"\n

Im zweiten Teil <\/strong>Kurz & knapp<\/strong><\/em> f\u00fcr dieses Jahr geht es um traumatisierende Gewalt, Herkunft, Alltagsrassismus, Verschw\u00f6rungstheorien und gute Kurzgeschichten.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

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aufgeschrieben<\/em> ist ein vielstimmiges Gespr\u00e4ch \u00fcber Gewalt und Trauma. \u00dcber das, was davon bleibt, vom “Ich”, das lange sexualisierter Gewalt – z.B. in organisierten Strukturen – ausgesetzt ist. Der Text ist dicht, dr\u00fcckend, in Bewegung, bildhaft und verschlungen. Man begibt sich in ihn hinein wie in einen zeitlosen Raum. H.C. Rosenblatt betreibt seit langsam Ein Blog von Vielen<\/a><\/em>, zu dem u.a. auch ein Podcast geh\u00f6rt. Er erz\u00e4hlt vom Leben mit dissoziativer Identit\u00e4tsstruktur, vom \u00dcberleben, vom Kampf um Autonomie und dem normierenden Blick der anderen. aufgeschrieben<\/em> ist ein Destillat dieser Themen, ein Ringen um Worte f\u00fcr das Unaussprechliche, der Versuch, sich schreibend zu erfahren. Es gibt keine Handlung im klassischen Sinne, sondern die Perspektiven verschiedener Pers\u00f6nlichkeiten, die alle jeweils Teile des Traumas tragen und verk\u00f6rpern. Ein wichtiges Buch \u00fcber ein Thema, das breitere Aufmerksamkeit und mehr Bereitschaft zur Auseinandersetzung verdient.

H.C. Rosenblatt: aufgeschrieben. edition assemblage. 96 Seiten. 15,00 \u20ac.<\/em><\/p>\n\n\n\n

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Der Platz<\/em> erschien im Original bereits 1984. Annie Ernaux erz\u00e4hlt in n\u00fcchtern-analytischer Sprache vom Leben ihres Vaters und den milieubedingten Codes, die sie, als sie in akademische Kreise eintritt, von ihrem Vater entfremden. Der ist ein bodenst\u00e4ndiger, pragmatischer Mann, handfest, immer bem\u00fcht, seine einfache Herkunft zu verbergen. Ernauxs Beobachtungen beginnen mit dem Tod des Vaters und zeichnen pr\u00e4zise das Milieu nach, aus dem sie wie auch ihr Vater stammen. Ihr ist nicht so sehr am Individuellen gelegen (besonders mitteilsam ist ihr Vater diesbez\u00fcglich ohnehin nicht), sondern am Strukturellen, an einer Typisierung. Das gelingt ihr auf wenigen Seiten so eindr\u00fccklich, dass einem neuerlich zu Bewusstsein kommt, wie komplex und kleinteilig das Soziale und die Gesellschaft sind. Fragen nach Herkunft und Pr\u00e4gung, nach Ein- und Ausschlussmechanismen sind auch heute noch von gro\u00dfer Bedeutung; Ernaux macht sie in ihrem Werk sichtbar. (Kleine Anmerkung an dieser Stelle: 18,00 \u20ac sind f\u00fcr 94 Seiten ein einigerma\u00dfen stolzer Preis)<\/p>\n\n\n\n

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Franz\u00f6sischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag. 94 Seiten. 18,00 \u20ac. <\/em><\/p>\n\n\n\n

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Um Herkunft geht es auch in Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107s gleichnamigen Roman, der auf virtuose Weise die Kontingenz der Geburt und die Konstruktion der eigenen Biographie offenlegt. Herkunft <\/em>ist der Versuch, sich selbst zu erz\u00e4hlen, zu verorten, zu verwurzeln. Die Erz\u00e4hlung des eigenen Lebensweges ist immer eine Konstruktionsleistung, gew\u00f6hnlich wird damit aber weniger ostentativ umgegangen wie es Stani\u0161i\u0107 tut. Was f\u00fcr ein ungeheuerlicher Zufall es ist, wo wir geboren werden. Was f\u00fcr Geschichten wir uns manchmal erz\u00e4hlen (m\u00fcssen), um uns zusammenzuhalten. Was f\u00fcr m\u00f6rderische Geschichten uns manchmal erz\u00e4hlt werden, um uns zu spalten und zu entfremden. Stani\u0161i\u0107 ist vierzehn, als er mit seinen Eltern 1992 aus Bosnien nach Deutschland kommt. Jugoslawien zerf\u00e4llt und mit ihm eine Gro\u00dferz\u00e4hlung, die keinen Wert mehr hat. Herkunft <\/em>verf\u00e4hrt selbstreferentiell, indem es immer wieder Bezug auf sein Entstehen nimmt und es stellt dem Autor Stani\u0161i\u0107 seine Gro\u00dfmutter gegen\u00fcber. Der eine versucht, aus den Erinnerungen eine Geschichte zu formen, die ihre Br\u00fcche nicht erz\u00e4hlerisch verschleiert. Die andere verliert ihre Erinnerungen, St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck. Herkunft<\/em> ist kein Roman und will keiner sein, Herkunft<\/em> ist ein work-in-progress-Projekt, das man beim Entstehen beobachten kann. Und ganz nebenbei f\u00fchrt es die neurechten Herkunftserz\u00e4hlungen von Zugeh\u00f6rigkeit ad absurdum. Ein fantastisches Buch!

Sa\u0161a Stani\u0161i\u0107: Herkunft. Luchterhand. 368 Seiten. 22,00 \u20ac.<\/em><\/p>\n\n\n\n

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Aus einem Blogeintrag mit gleichnamigen Titel, der das Sprechen \u00fcber Hautfarbe eigentlich f\u00fcr beendet erkl\u00e4ren sollte, ist ein Buch geworden, das f\u00fcr ein Eintreten in die Debatte wirbt. Reni Eddo-Lodge, 1989 in London geboren, gesteht zu Beginn, zun\u00e4chst wenig \u00fcber die Geschichte der People of Colour in Gro\u00dfbritannien gewusst zu haben. Referenzpunkt bildeten immer die Vereinigten Staaten und die Geschichte der dortigen Einwanderer; Gro\u00dfbritannien habe sich hingegen wenig mit dem eigenen Rassismus und seiner Entwicklung im Land auseinandergesetzt. Dieser Umstand ist ein Grund daf\u00fcr, dass Lodges Buch sein Augenmerk klar auf Gro\u00dfbritannien richtet. Nichtsdestotrotz stellt es wichtige, Teilen der Linken auch unangenehme Fragen. Es geht um Antirassismus im Feminismus, um Intersektionalit\u00e4t, um falsche Diskussionsans\u00e4tze. Besonders eindr\u00fccklich die Beteuerungen, keine Hautfarben mehr zu k\u00f6nnen und damit wesentliche Lebensrealit\u00e4ten von PoC zu verkennen. Die L\u00f6sung darf an dieser Stelle nicht die idealistisch motivierte Verdrehung von Tatsachen sein: De facto ist Hautfarbe f\u00fcr viele ein Thema, die nicht der wei\u00dfen Norm entsprechen. Wohl dem, der sich \u00fcber die Existenz von Normen vor allem deshalb nie Gedanken machen musste, weil er ihnen zuf\u00e4llig entspricht. Eddo-Lodge liefert mit Warum ich nicht l\u00e4nger mit Wei\u00dfen \u00fcber Hautfarbe spreche<\/em> einen wertvollen Debattenbeitrag, der das Gespr\u00e4ch \u00fcber Alltagsrassismus und Privilegien nicht nur bereichert, sondern auch den Blick daf\u00fcr sch\u00e4rft.

Reni Eddo-Lodge: Warum ich nicht l\u00e4nger mit Wei\u00dfen \u00fcber Hautfarbe spreche. Aus dem Englischen von Anette Grube. Tropen Verlag. 263 Seiten. 18,00 \u20ac.<\/em><\/p>\n\n\n\n

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Verschw\u00f6rungstheorien sind in aller Munde. Die Bereitschaft, simplifizierenden Geschichten von machthungrigen Strippenziehern in Hinterzimmern Glauben zu schenken, hat in den letzten Jahren – so mein<\/em> Gef\u00fchl (!) – sp\u00fcrbar zugenommen. Vielerorts herrscht eine problematische Wissenschaftsskepsis vor, die Fakten und Meinungen nicht mehr voneinander trennt und f\u00fcr nahezu alles gleiche G\u00fcltigkeit beansprucht – jeder glaubt halt, was er mag. Fake News<\/em> ist als Begrifflichkeit sp\u00e4testens seit Donald Trump in den allgemeinen Wortschatz \u00fcbergegangen. Aber wie funktionieren eigentlich Verschw\u00f6rungstheorien? Haben sie eine inh\u00e4rente Dynamik, eine Familien\u00e4hnlichkeit? Worin besteht der Unterschied zwischen gesunder Skepsis und einem sogenannten “toxischen Zweifel”, der Institutionen und demokratische \u00dcbereink\u00fcnfte untergr\u00e4bt? Jan Skudlarek ist promovierter Philosoph und geht diesen Fragen in Wahrheit und Verschw\u00f6rung<\/em> akribisch und \u00e4u\u00dferst kleinschrittig auf den Grund. In dieser \u00dcberblicksdarstellung wird jeder mitgenommen, jeder Gedankengang wird anschaulich erl\u00e4utert. Wir wissen dann: Es gibt keine alternativen Fakten. Es braucht Zivilcourage, Engagierte im Sinne der \u00fcberpr\u00fcfbaren, faktenbasierten Sache. Dort, wo noch Land gut zu machen ist. Denn wir wissen auch: In manchen Kreisen ist kein Durchkommen mehr, keine \u00dcbereinkunft, kein common ground. Ein kompaktes und kompetentes Basiswerk, das am Ende, daf\u00fcr ist allerdings der Autor nicht verantwortlich zu machen, wohl vor allem von denen gelesen wird, die nicht zur Verschw\u00f6rungstheorie neigen. Trotz alledem: Es schadet nicht, eine zu erkennen, wenn man sie sieht.

Jan Skudlarek: Wahrheit und Verschw\u00f6rung. Reclam Verlag. 208 Seiten. 18,00 \u20ac.<\/em><\/p>\n\n\n\n

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Kurzgeschichten sind ein im Literaturbetrieb stiefm\u00fctterlich behandeltes Genre. Warum das so ist, hat sich mir noch nie wirklich erschlossen. Der Norweger Bjarte Breiteig ist in seiner Heimat vor allem bekannt f\u00fcr seine Kurzgeschichten – im letzten Jahr habe ich \u00fcber seinen Roman Meine f\u00fcnf Jahre als Vater<\/em> gesprochen<\/a>. Die kennen keine Trauer<\/em> versammelt Kurzgeschichten rundum Menschen, die Grenzen \u00fcbertreten oder aus Strukturen fallen, in denen sie einst Halt gefunden haben. Die Erz\u00e4hlungen sind um einen eruptiven Punkt herum versammelt, der manchmal eine grundlegende Ver\u00e4nderung im Leben der Protagonisten anst\u00f6\u00dft und manchmal nur ein kurzer Stromschlag im Alltag ist. Da ist Karsten, “vieles an ihm ist komisch”, der eines Tages zerst\u00f6rerisch wie eine Naturgewalt durch einen Klassenraum fegt. Da ist der Mann, der nach Jahren schwerer k\u00f6rperlicher Arbeit unter der Dusche kollabiert. Ein Mann erschie\u00dft f\u00fcr eine Frau seinen Hund. Ein anderer erfindet sich im Chat ein alternatives Leben. Breiteig erz\u00e4hlt vornehmlich von M\u00e4nnern, m\u00e4nnlichen Perspektiven. In einem leisen Stil, zur\u00fcckgenommen, Leerstellen lassend, wenn alles gesagt ist. Die Geschichten sind schn\u00f6rkellos und pur, erz\u00e4hlen von kleinen und gro\u00dfen Trag\u00f6dien und Verlusten. Deshalb treffen sie einen Punkt. Breiteig zeigt, was an Kurzgeschichten so anregend sein kann. Es ist gerade das Komprimierte, der Ausschnitt, die Momentaufnahme. Es braucht keine gro\u00dfen Erkl\u00e4rungen, keine Tableaus und Jahrhunderte umspannende Gro\u00dferz\u00e4hlung. Die kleine Form wird notorisch untersch\u00e4tzt. K\u00f6nnte sich ja mal \u00e4ndern.

Bjarte Breiteig: Die kennen keine Trauer. Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. luftschacht Verlag. 88 Seiten. 16,00 \u20ac.<\/em><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Im zweiten Teil Kurz & knapp f\u00fcr dieses Jahr geht es um traumatisierende Gewalt, Herkunft, Alltagsrassismus, Verschw\u00f6rungstheorien und gute Kurzgeschichten. aufgeschrieben ist ein vielstimmiges Gespr\u00e4ch \u00fcber Gewalt und Trauma. \u00dcber das, was davon bleibt, vom “Ich”, das lange sexualisierter Gewalt – z.B. in organisierten Strukturen – ausgesetzt ist. Der Text ist dicht, dr\u00fcckend, in Bewegung, bildhaft und verschlungen. Man begibt sich in ihn hinein wie in einen zeitlosen Raum. H.C. Rosenblatt betreibt seit langsam Ein Blog von Vielen, zu dem u.a. auch ein Podcast geh\u00f6rt. Er erz\u00e4hlt vom Leben mit dissoziativer Identit\u00e4tsstruktur, vom \u00dcberleben, vom Kampf um Autonomie und dem normierenden Blick der anderen. aufgeschrieben ist ein Destillat dieser Themen, ein Ringen um Worte f\u00fcr das Unaussprechliche, der Versuch, sich schreibend zu erfahren. Es gibt keine Handlung im klassischen Sinne, sondern die Perspektiven verschiedener Pers\u00f6nlichkeiten, die alle jeweils Teile des Traumas tragen und verk\u00f6rpern. Ein wichtiges Buch \u00fcber ein Thema, das breitere Aufmerksamkeit und mehr Bereitschaft zur Auseinandersetzung verdient. H.C. Rosenblatt: aufgeschrieben. edition assemblage. 96 Seiten. 15,00 \u20ac. Der Platz erschien im Original bereits 1984. …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12707,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[836,2212,16],"tags":[2562,2496,2559,2561,2386,2560,1472],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2019\/06\/DSCN9084.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12706"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12706"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12706\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12717,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12706\/revisions\/12717"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12707"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12706"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12706"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12706"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}