{"id":12578,"date":"2019-04-08T18:36:04","date_gmt":"2019-04-08T16:36:04","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12578"},"modified":"2019-04-09T09:14:23","modified_gmt":"2019-04-09T07:14:23","slug":"das-thema-ist-kassengift-anselm-neft-im-interview","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2019\/04\/das-thema-ist-kassengift-anselm-neft-im-interview\/","title":{"rendered":"Das Thema ist Kassengift: Anselm Neft im Interview."},"content":{"rendered":"\n

Unl\u00e4ngst ist sein Roman “Die bessere Geschichte<\/a>” erschienen, der sich mit institutionellem Missbrauch besch\u00e4ftigt. Ich habe mit Anselm Neft \u00fcber das Thema Missbrauch im Roman gesprochen, \u00fcber gesellschaftliche Debatten und den Tatort am Sonntag.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Dein Roman steht jetzt seit vier Wochen in den Buchl\u00e4den \u2013 wie waren die Reaktionen bislang? Gab es \u00dcberraschungen f\u00fcr dich?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Ich bin tats\u00e4chlich \u00fcberrascht dar\u00fcber, wie <\/em>positiv die Reaktionen sind. Fast t\u00e4glich meldet sich eine begeisterte Leserin oder ein begeisterter Leser. Ich freue mich sehr dar\u00fcber, andererseits frage ich mich manchmal, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ich hatte mit mehr Widerstand und Widerspruch, auch mit Wut gerechnet. Offenbar renne ich nur eine offene T\u00fcr ein \u2013 und das schmeichelt meinem Autoren-Ego nur bedingt.<\/p>\n\n\n\n

Ein Buch \u00fcber institutionellen, sexuellen Missbrauch zu schreiben, ist eine Sache. Ihn bei einem Verlag unterzubringen vermutlich noch eine andere, obwohl er sehr linear erz\u00e4hlt ist. Bist du da auf Schwierigkeiten oder Vorbehalte gesto\u00dfen?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Ja. Zum einen bin ich von mehreren Leuten, die es wissen sollten, darauf hingewiesen worden, dass das Thema Kassengift sei und f\u00fcr Verlage sehr problematisch. Mein jetziger Lektor war auch anfangs hin- und hergerissen. Er fand den Stoff einerseits sehr interessant, hatte aber andererseits Bedenken, es im Verlag zu kommunizieren. Schlie\u00dflich haben ihn die Umsetzung und mein Auftritt beim Ingeborg Bachmann Preis in Klagenfurt \u00fcberzeugt.<\/p>\n\n\n\n

Wann ist der Entschluss gefallen, dieses Buch zu schreiben?<\/em>

Etwa 2012. Seit 2010 habe ich mich verst\u00e4rkt mit sexueller Gewalt gegen Minderj\u00e4hrige befasst, weil ich einer Gruppe beigetreten bin, die sich mit den Verbrechen und Vergehen am Aloisiuskolleg befasste \u2013 einer Jesuitenschule bei Bonn, die ich zwischen 1983 und 1992 besucht habe. Die erste Version des Buches habe ich jedoch nach 150 Seiten verworfen, weil ich merkte, dass etwas fehlt. Ich brauchte eine neue Haltung, eine andere Erz\u00e4hlperspektive und bin schlie\u00dflich beim jetzigen Icherz\u00e4hler angekommen.<\/p>\n\n\n\n

\"\"<\/figure>\n\n\n\n

Du warst selbst Sch\u00fcler auf dem Bonner Aloisiuskolleg, das sich seit 2010 mit Missbrauchsanschuldigungen auseinandersetzen musste und im Zuge dessen in der Aufkl\u00e4rungsarbeit t\u00e4tig. Mit Tilman Weber hast du eine Figur geschaffen, die manches mit dir teilt \u2013 so u.a. die Liebe zu Edgar Allen Poe. Was entgegnest du Leuten, die jetzt zwanghaft deine eigene Biographie in dem Roman erkennen wollen?<\/em>

Es ist ein Roman. Wirklich. Es gibt ein, zwei Anspielungen auf das Aloisiuskolleg und die Odenwaldschule, aber das Internat und s\u00e4mtliche Personen sind rein fiktiv. Auch der Icherz\u00e4hler. Ich finde es befreiend, wenn ich mich nicht an historischen Fakten orientieren muss. Und auf keine realen Personen R\u00fccksicht nehmen muss. Die St\u00e4rke der Gattungsform Roman liegt f\u00fcr mich unter anderem darin, dass durch sie Einsichten in die Wirklichkeit verdichtet, destilliert und \u00fcberh\u00f6ht werden k\u00f6nnen, am besten auf eine Weise, die vielschichtige Lesarten erm\u00f6glicht.<\/p>\n\n\n\n

Wir stellen uns die T\u00e4ter*innen zu schnell als Monster vor und glauben, moralische Emp\u00f6rung und Rigorosit\u00e4t w\u00fcrde den Betroffenen helfen. Sie soll aber blo\u00df uns selbst helfen und schadet den Betroffenen h\u00e4ufig eher. <\/strong><\/p>Anselm Neft<\/cite><\/blockquote>\n\n\n\n

Der Roman legt die Dynamik von Missbrauch sehr detailliert blo\u00df. Wie sind die zwischenmenschlichen Beziehungen gestaltet, was erm\u00f6glicht (institutionellen) Missbrauch etc. Glaubst du, dass diesbez\u00fcglich in der breiteren \u00d6ffentlichkeit noch Aufkl\u00e4rungsbedarf besteht?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Ja. Ich denke, die Aufkl\u00e4rung ist auf einem guten Weg. Aber ich denke, viele wissen wenig \u00fcber die Hintergr\u00fcnde von unterschiedlichen Tatmotivationen. Wir stellen uns die T\u00e4ter*innen zu schnell als Monster vor und glauben, moralische Emp\u00f6rung und Rigorosit\u00e4t w\u00fcrde den Betroffenen helfen. Sie soll aber blo\u00df uns selbst helfen und schadet den Betroffenen h\u00e4ufig eher. Die T\u00e4ter*innen in unserem Nahumfeld \u00fcbersehen wir in der Regel, weil die ja nett und cool und interessant sind. Das k\u00f6nnen ja keine Monster sein. Und die ambivalenten Gef\u00fchle der Betroffenen nehmen wir nicht ernst: Die sollen denjenigen hassen, der ihr Vertrauen missbraucht hat. Sch\u00f6n eindeutig. Aber diese Eindeutigkeit empfinden viele nicht. Was spricht dagegen, einfach zuzuh\u00f6ren, anstatt immer gleich urteilen zu m\u00fcssen? Also R\u00e4ume anbieten, anstatt eng machen? Und warum sind wir so fixiert auf Kindesmissbrauch, sobald er sexualisiert ist? Kinder werden t\u00e4glich auf zig Weisen missbraucht. Michael Jackson hatte keine Kindheit, weil sein Vater ihn nicht als eigenst\u00e4ndiges Lebewesen, sondern als verl\u00e4ngerten Arm seiner Gr\u00f6\u00dfenphantasie betrachtet hat. Der Kern des Missbrauchs ist nicht Sex, sondern dass Erwachsene, ihren Mangel an Kindern kompensieren. So wie offenbar sp\u00e4ter Michael Jackson seinen Mangel an Kindern kompensiert hat.<\/p>\n\n\n\n

Ich hatte den Eindruck, dass die Darstellung dieser Dynamiken, dieser Verflechtungen und Verdrehungen, sehr zentral ist im Roman. Es f\u00e4llt leicht, als Leser*in Schritt f\u00fcr Schritt nachzuvollziehen, wie die Manipulation stattfindet und wie Schweigen gesichert wird. War dir das besonders wichtig?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Ich habe mich als Religionswissenschaftler viel mit Sekten und den entsprechenden Dynamiken befasst. Mich interessiert einfach, wie wir erzogen werden, wie wir uns selbst erziehen und welche Verleugnungen dabei stattfinden. Im Missbrauchskontext oder in Sekten ist das besonders deutlich, krass und einschneidend f\u00fcr die Pers\u00f6nlichkeitsentwicklung, aber es betrifft alle Menschen, sp\u00e4testens ab der Pubert\u00e4t.<\/p>\n\n\n\n

Wir sehen heute auch mehr, dass Traumata tats\u00e4chlich durch Generationen weitergegeben werden k\u00f6nnen und nicht allein durch Reflexion aufzuheben sind. <\/strong><\/p>Anselm Neft<\/cite><\/blockquote>\n\n\n\n

Ich bemerke selbst immer wieder, dass viele Menschen sich zwar emp\u00f6ren, wenn Missbrauchsf\u00e4lle bekannt und \u00f6ffentlich diskutiert werden, die Kenntnis dar\u00fcber, welche Folgen Traumatisierung hat aber sehr vage und diffus ist. Nimmst du das auch so wahr, bzw. findest du das (wie ich) etwas problematisch?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Das Wissen \u00fcber Traumata w\u00e4chst, also beispielsweise, dass es Entwicklungs- und Schocktraumata geben kann, dass ein Traumata nicht allein eine Verwundung, sondern auch der verstetigte Versuch ist, sich vor einer neuer Verwundung zu sch\u00fctzen, und dass dieser verstetigte Versuch Krankheitsbilder erzeugt, wie zum Beispiel eine st\u00e4ndige Alarmbereitschaft des K\u00f6rpers bis hin zu Ver\u00e4nderungen auf biochemischer Ebene. Wir sehen heute auch mehr, dass Traumata tats\u00e4chlich durch Generationen weitergegeben werden k\u00f6nnen und nicht allein durch Reflexion aufzuheben sind. Trotz dieses Wissens sehen wir in der Regel nicht, dass Menschen mit anstrengenden, ungesunden, s\u00fcchtelnden, bed\u00fcrftigen, st\u00f6ranf\u00e4lligen, \u00e4ngstlichen oder aggressiven Verhaltensweisen nicht einfach dicke, cholerische, kontrollgeile, alkoholkranke, beziehungsunf\u00e4hige, arbeits- oder sexs\u00fcchtige Freaks auf dem Weg ins n\u00e4chste Burn-Out sind, sondern dahinter die oft verzweifelten Versuche stehen, mit gro\u00dfen inneren Turbulenzen klar zu kommen. Und die gehen wiederum auf Traumata zur\u00fcck, also eine nicht-konstruktive oder komplett defekte psychische Wundheilung k\u00f6nnte man sagen. Die sucht sich niemand aus. Verurteilungen bringen da gar nichts. Weder gegen\u00fcber sich selbst noch gegen\u00fcber anderen. Ich m\u00fcsste es wissen, ich habe es sehr ausdauernd versucht. Unsere Urteile funktionieren au\u00dferdem oft recht mittelalterlich: Wir k\u00f6pfen die \u00dcberbringer der schlechten Nachricht, um uns selbst den Blick in eine ungerechte und von Zuf\u00e4llen bestimmte Welt zu ersparen.<\/p>\n\n\n\n

\u201eDie bessere Geschichte\u201c greift ein schwieriges Thema auf, das f\u00fcr viele mit gro\u00dfen Ber\u00fchrungs\u00e4ngsten verkn\u00fcpft ist. Wie kann man, glaubst du, diese \u00c4ngste ein St\u00fcck abbauen? Ist das durch ein etwas ver\u00e4ndertes Gesellschaftsklima vielleicht auch schon geschehen?<\/em>

Ich habe versucht, einen spannenden, interessanten, also leser*innenfreundlichen Roman zu schreiben, in der Hoffnung, so die Ber\u00fchrungs\u00e4ngste zu mildern. Und ich glaube, dass beispielsweise \u201emetoo\u201c dazu beigetragen hat, dass Betroffene sexueller Gewalt weniger als \u201ebemitleidenswert aber irgendwie ihh\u201c wahrgenommen werden. Das Thema ist derzeit wieder pr\u00e4senter, es gibt das Projekt \u201eKein T\u00e4ter werden\u201c an der Berliner Charit\u00e9. Auch das erzeugt ein etwas offeneres Klima sich mit Fragen rund um das Themenfeld \u201esexualisierte Gewalt\u201c zu befassen, zum Beispiel auch, ob \u201esexualisierte Gewalt\u201c ein treffenderer Begriff f\u00fcr das ist, was sonst oft \u201esexueller Missbrauch\u201c genannt wird. <\/p>\n\n\n\n

Wenn jemand der Kopf weggeschossen wird, l\u00e4sst uns das oft vergleichsweise kalt, wohingegen die Zahnarztszene in \u201eDer Marathonmann\u201c von urspr\u00fcnglich 8 Minuten auf 30 Sekunden gek\u00fcrzt wurde. Die Testzuschauer*innen waren entsetzt. <\/strong><\/p>Anselm Neft<\/cite><\/blockquote>\n\n\n\n

Was glaubst du, weshalb viele Menschen zwar jeden Sonntag leidenschaftlich Krimis sehen k\u00f6nnen, in denen Mord und jedwede Form von Gewalt abgehandelt wird, vor Literatur \u00fcber Gewalt \u2013 jedenfalls wenn sie nicht im klassischen Krimi-Gewand daherkommt \u2013 so oft zur\u00fcckschrecken?<\/em>

Ich glaube, die gewaltpornographischen Thriller und harten Krimis funktionieren eher wie M\u00e4rchen f\u00fcr Erwachsene, das hei\u00dft, sie werden als nicht-real, eher symbolisch rezipiert. Auch sind sie so \u00fcberzogen, dass man keinen Bezug zum eigenen Erleben herstellen kann. Wenn jemand der Kopf weggeschossen wird, l\u00e4sst uns das oft vergleichsweise kalt, wohingegen die Zahnarztszene in \u201eDer Marathonmann\u201c von urspr\u00fcnglich 8 Minuten auf 30 Sekunden gek\u00fcrzt wurde. Die Testzuschauer*innen waren entsetzt.<\/p>\n\n\n\n

Du sagst selbst von dir, du m\u00f6chtest kein \u201eDebattenbuch\u201c schreiben, das sich erkennbar an gegenw\u00e4rtigen gesellschaftlichen Diskursen abarbeitet. Was w\u00fcnschst du dir f\u00fcr das Buch?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Eine vielschichtige Leserschaft, die sich f\u00fcr Vielschichtigkeit und die M\u00f6glichkeiten der Literatur interessiert.<\/p>\n\n\n\n

Foto des Autors: Maren Kaschner<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Anselm Neft: Die bessere Geschichte. Rowohlt Verlag. 480 Seiten. 22,00 \u20ac. <\/em><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Unl\u00e4ngst ist sein Roman “Die bessere Geschichte” erschienen, der sich mit institutionellem Missbrauch besch\u00e4ftigt. Ich habe mit Anselm Neft \u00fcber das Thema Missbrauch im Roman gesprochen, \u00fcber gesellschaftliche Debatten und den Tatort am Sonntag. Dein Roman steht jetzt seit vier Wochen in den Buchl\u00e4den \u2013 wie waren die Reaktionen bislang? Gab es \u00dcberraschungen f\u00fcr dich? Ich bin tats\u00e4chlich \u00fcberrascht dar\u00fcber, wie positiv die Reaktionen sind. Fast t\u00e4glich meldet sich eine begeisterte Leserin oder ein begeisterter Leser. Ich freue mich sehr dar\u00fcber, andererseits frage ich mich manchmal, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ich hatte mit mehr Widerstand und Widerspruch, auch mit Wut gerechnet. Offenbar renne ich nur eine offene T\u00fcr ein \u2013 und das schmeichelt meinem Autoren-Ego nur bedingt. Ein Buch \u00fcber institutionellen, sexuellen Missbrauch zu schreiben, ist eine Sache. Ihn bei einem Verlag unterzubringen vermutlich noch eine andere, obwohl er sehr linear erz\u00e4hlt ist. Bist du da auf Schwierigkeiten oder Vorbehalte gesto\u00dfen? Ja. Zum einen bin ich von mehreren Leuten, die es wissen sollten, darauf hingewiesen worden, dass das Thema Kassengift sei und f\u00fcr …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12579,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[836],"tags":[2435,2547,1465,2549,2556],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2019\/04\/anselm.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12578"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12578"}],"version-history":[{"count":4,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12578\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12585,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12578\/revisions\/12585"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12579"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12578"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12578"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12578"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}