{"id":12526,"date":"2019-02-10T12:38:01","date_gmt":"2019-02-10T10:38:01","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12526"},"modified":"2019-02-10T12:39:06","modified_gmt":"2019-02-10T10:39:06","slug":"adlade-bon-das-maedchen-auf-dem-eisfeld","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2019\/02\/adlade-bon-das-maedchen-auf-dem-eisfeld\/","title":{"rendered":"Ad\u00e9la\u00efde Bon – Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld"},"content":{"rendered":"\n

Ad\u00e9la\u00efde ist neun Jahre alt, als sie von einem Fremden im Treppenhaus ihres Wohnhauses missbraucht wird. Er lockt sie unter einem Vorwand zu sich und vergeht sich an dem M\u00e4dchen, das weder begreift, was im Moment selbst mit ihr geschieht noch die Chance bekommt, im unmittelbaren Anschluss an das Verbrechen dessen Tragweite zu erkennen. Es dauert \u00fcber zwanzig Jahre, bis sie versteht und mit der Aufarbeitung beginnen kann.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Sie hat ihn angesehen und mit dem Kopf genickt wie diese kleinen Hunde auf der Hutablage hinten im Auto. Ich bin lieb, ich bin h\u00fcbsch, ich mag das, du bist mein Freund, du magst meinen dicken Po, du tust mir gut, ich bin eine Naschkatze, ich sage niemandem was davon, es ist unser Geheimnis, versprochen, ich sage niemandem was.<\/em> Worte, die er ihr eingeredet hat und an die sie sich nicht erinnert, genauso wenig wie an das, was er ihr angetan hat.<\/p>Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld
<\/cite><\/blockquote>\n\n\n\n

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Ein Tag im Mai ver\u00e4ndert das Leben von Ad\u00e9la\u00efde grundlegend. Obwohl sie ihren Eltern davon erz\u00e4hlt und die Polizei eine Anzeige wegen unsittlicher Ber\u00fchrungen<\/em> aufnimmt, spielt das Erlebte danach kaum noch eine Rolle. In einer Familie aufwachsend, in der jede Form der K\u00f6rperlichkeit verschwiegen und ignoriert wird, sinkt die fragmentarische Erinnerung an die Gewalt langsam in tiefere Schichten von Ad\u00e9la\u00efdes Bewusstsein ab. Sie denkt nicht an das, was geschehen ist, aber es arbeitet in ihr. Sie wei\u00df nicht<\/em>, schreibt Bon, dass sie sich ab sofort im Kriegszustand befindet und die feindliche Armee in ihr haust.<\/em> Die Gewalt hat zwei Ad\u00e9la\u00efdes erschaffen. Die eine lebt weiter, im Schatten eines Ereignisses, das kaum bewusst pr\u00e4sent ist, aber seine \u201eTentakeln\u201c um sie geschlungen hat. Die andere ist das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld<\/em>, f\u00fcr immer neun Jahre alt, eingefroren in dem Moment, in dem die Flucht unm\u00f6glich war.<\/p>\n\n\n\n

Ad\u00e9la\u00efde beginnt immer mehr zu essen, mit Essen die Ohnmacht und die Leere zu f\u00fcllen, die irgendetwas in ihr hinterlassen hat. Sie erlebt wiederkehrende Panikattacken, geistige Abwesenheit, die Fremdheit ihres eigenen K\u00f6rpers. Als sie sich entscheidet, Schauspielerin zu werden, wird ihr immer wieder vorgehalten, dass sie nicht \u201eecht\u201c sei, dass sie nicht \u201ebei sich\u201c sei, dass sie nicht wirklich f\u00fchlen und loslassen k\u00f6nne. Viele Jahre ist es, als liefe Ad\u00e9la\u00efde auf einer d\u00fcnnen Eisdecke, sie findet keinen Halt, nicht in sich und nicht bei anderen. Ihr Beziehungsverhalten ist unstet und risikoreich. Eines Tages erf\u00e4hrt sie im Rahmen ihres feministischen Engagements auf einer Veranstaltung zum Thema sexuelle Gewalt etwas, das in ihr Bewegung anst\u00f6\u00dft. Vergewaltigung ist jede Art von Penetration. Ihr beginnt zu d\u00e4mmern, dass das Erlebnis ihrer Kindheit weit mehr gewesen ist als die unsittliche Ber\u00fchrung eines Fremden. Sie beginnt, an Menschen zu geraten, die sich mit sexueller Gewalt besch\u00e4ftigt haben, mit Traumatisierung, die ihr Worte geben und Kategorien, um emotional zu begreifen, was ihr geschehen ist. Dass es ihr<\/em> geschehen ist.<\/p>\n\n\n\n

Keiner ahnt, wie viel \u00dcberwindung mich das Sprechen kostet, dass es manchmal unm\u00f6glich ist. Ich f\u00fchle mich so unw\u00fcrdig. Die vielen von Scham, Ausweichman\u00f6vern, Argwohn beherrschten Jahre, ich habe mir so viele Gelegenheiten entgehen lassen und so viele W\u00fcnsche zensiert, dass mein Leben einem gro\u00dfen Soldatenfriedhof gliche, wenn ich jedes Mal ein wei\u00dfes Kreuz aufgestellt h\u00e4tte.<\/p>Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld<\/cite><\/blockquote>\n\n\n\n

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Ad\u00e9la\u00efde Bon schreibt eindr\u00fccklich und aufr\u00fcttelnd \u00fcber das Leben nach sexueller Gewalt und \u00fcber die weitreichenden Konsequenzen einer solchen Tat. Das Buch selbst spiegelt Bons Entwicklungen auch auf sprachlicher Ebene. Beginnt es noch mit der personalen Erz\u00e4hlperspektive, brechen im Zuge der Rekonstruktion des Erlebten immer wieder auch Passagen durch, in denen von einem \u201eIch\u201c die Rede ist. Es ist nicht mehr \u201eihr\u201c passiert, irgendeinem M\u00e4dchen, sondern Ad\u00e9la\u00efde. Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld<\/em> l\u00e4sst nicht nur die Spaltung erfahrbar werden, die das Trauma verursacht, sondern auch die Auswirkungen dieser Spaltung. Immer wieder wird Ad\u00e9la\u00efde von schrecklichen Gedanken und Fantasien gesch\u00fcttelt, ohne den Zusammenhang zu begreifen. Sie ist unerm\u00fcdlich auf der Suche, das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld bemerkt sie nicht.<\/p>\n\n\n\n

In der Dokumentation des Gerichtsprozesses gegen den Intensivt\u00e4ter, der nach Ad\u00e9la\u00efde noch zahllose M\u00e4dchen missbrauchte, bevor man ihn mittels DNA-Analyse schlie\u00dflich identifizieren konnte, wird auch die mangelnde Expertise vieler Gutachter*innen in Bezug auf die Folgen sexueller Gewalt deutlich. Ad\u00e9la\u00efde muss sich teils erniedrigenden Befragungen unterziehen, die gepr\u00e4gt sind von Relativierung und Misstrauen gegen\u00fcber den Betroffenen. In diesem Punkt leistet ihr Buch wichtige Aufkl\u00e4rungsarbeit. Sie versucht, den Frauen eine Stimme zu geben, deren F\u00e4lle nicht mehr ber\u00fccksichtigt wurden oder die au\u00dferhalb des Prozesses nie dar\u00fcber gesprochen haben. Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld <\/em>ist kein Roman, wenn er auch mithilfe literarischer Mittel und sprachlicher Bilder etwas begreiflich zu machen versucht, was sich oft der Sprache entzieht. Bons Buch ist der Bericht einer tiefen Ersch\u00fctterung und Zerst\u00f6rung, aber auch der unumst\u00f6\u00dfliche Beweis beachtlicher St\u00e4rke und Widerstandskraft. Es ist ein wichtiges Buch.<\/p>\n\n\n\n

Ad\u00e9la\u00efde Bon – Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld<\/a>, aus dem Franz\u00f6sischen von Bettina Bach. Hanser. 240 Seiten. 22,00 \u20ac.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Ad\u00e9la\u00efde ist neun Jahre alt, als sie von einem Fremden im Treppenhaus ihres Wohnhauses missbraucht wird. Er lockt sie unter einem Vorwand zu sich und vergeht sich an dem M\u00e4dchen, das weder begreift, was im Moment selbst mit ihr geschieht noch die Chance bekommt, im unmittelbaren Anschluss an das Verbrechen dessen Tragweite zu erkennen. Es dauert \u00fcber zwanzig Jahre, bis sie versteht und mit der Aufarbeitung beginnen kann. Sie hat ihn angesehen und mit dem Kopf genickt wie diese kleinen Hunde auf der Hutablage hinten im Auto. Ich bin lieb, ich bin h\u00fcbsch, ich mag das, du bist mein Freund, du magst meinen dicken Po, du tust mir gut, ich bin eine Naschkatze, ich sage niemandem was davon, es ist unser Geheimnis, versprochen, ich sage niemandem was. Worte, die er ihr eingeredet hat und an die sie sich nicht erinnert, genauso wenig wie an das, was er ihr angetan hat. Das M\u00e4dchen auf dem Eisfeld Ein Tag im Mai ver\u00e4ndert das Leben von Ad\u00e9la\u00efde grundlegend. Obwohl sie ihren Eltern davon erz\u00e4hlt und die Polizei eine …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12527,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839,840],"tags":[2543,2544,1132,2542,1558],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2019\/02\/DSCN8836.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12526"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12526"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12526\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12532,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12526\/revisions\/12532"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12527"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12526"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12526"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12526"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}