{"id":12472,"date":"2019-01-17T08:30:22","date_gmt":"2019-01-17T06:30:22","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12472"},"modified":"2019-01-17T11:29:26","modified_gmt":"2019-01-17T09:29:26","slug":"jan-drees-sandbergs-liebe","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2019\/01\/jan-drees-sandbergs-liebe\/","title":{"rendered":"Jan Drees – Sandbergs Liebe"},"content":{"rendered":"

Als die Dating-App Kristian Sandberg mit Kalina verkn\u00fcpft, deutet wenig auf die Katastrophe hin, die das zuf\u00e4llige Aufeinandertreffen im digitalen Raum zur Folge haben wird. R\u00fcckwirkend gelesen gibt der Roman kleine Leuchtsignale: Sandbergs Zahnschmerzen sind gerade mittels provisorischer F\u00fcllung zum Schweigen gebracht worden, aus den Kopfh\u00f6rern dringt das Album Borderline<\/em> eines K\u00f6lner Produzentenduos. Jan Drees erz\u00e4hlt davon, was Menschen sich antun k\u00f6nnen im Namen von Liebe und Gemeinsamkeit und er beleuchtet die fatalen Folgen emotionaler Gewalt.<\/strong><\/p>\n\n\n

Kristian ist ein mitteljunger Literaturagent auf der Suche nach einer tragf\u00e4higen, innigen Beziehung. Kalina ist Zahn\u00e4rztin und, so scheint es auf den ersten Blick, eine aktive und feinf\u00fchlige Frau. Ein bisschen mystisch vielleicht, geheimnisvoll. Sie verabreden sich zum Essen, reden offen und lange. Die Anziehung, die beide f\u00fcreinander empfinden, l\u00e4sst sie schnell n\u00e4her zusammenr\u00fccken und schon nach kurzer Zeit sagt Kalina zu Kristian: \u201eDu darfst nie wieder gehen.\u201c Beide sind sie Versehrte, Bindungstraumatisierte, die im anderen etwas suchen, das sie nicht aus eigener Anschauung kennen: Geborgenheit, Akzeptanz, tiefe Verbundenheit, Liebe. Sie spielen, was es bedeutet, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen und offenzulegen. Und dieses Spiel, von ihnen beiden manchmal fast zum Pathos \u00fcberh\u00f6ht, f\u00fchrt geradewegs in den Abgrund.<\/p>\n\n\n\n

“\u00dcber jeden Menschen”, sage ich, “gibt es einen Satz, der sein Leben zum Einsturz bringt, einen Satz, den wir aus H\u00f6flichkeit verschweigen.”<\/em><\/p>\n\n\n\n

Erst in j\u00fcngster Vergangenheit beginnt sich,<\/em> auch durch einige Studien zum Thema, die Erkenntnis zu verbreiten, dass emotionale Gewalt aufgrund ihrer unsichtbaren Spuren nicht etwa harmloser w\u00e4re als k\u00f6rperliche Gewalt; viel mehr richtet beides ganz \u00e4hnliche Sch\u00e4den an im eigenen Selbstverst\u00e4ndnis und dem Vertrauen zu anderen. Jan Drees, Redakteur beim Deutschlandfunk, legt, vor dem Hintergrund pers\u00f6nlicher Erfahrungen<\/a>, in Sandbergs Liebe<\/em> ein besonderes Augenmerk auf das Ph\u00e4nomen des Gaslighting<\/em>. Im Fall von Kristian und Kalina beginnt es harmlos mit vermeintlich doppeldeutigen Situationen und verfehlter Kommunikation. Es sind Dinge, die noch nicht ohne Zweifel als Gewalt erkennbar sind. St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck aber entfaltet Drees in seinem Roman eine hochgradig dysfunktionale Beziehungsstruktur, die Kristian in seinen Grundfesten ersch\u00fcttert. Was er auch tut, Kalina negiert seine Wahrnehmung, sie unterstellt ihm Gewalt, sie beginnt, sein Umfeld und seinen Freundeskreis zu kontrollieren, weil er ihr vermeintlich Anlass dazu gibt. Es wird, isoliert, wie Kristian ist, immer schwieriger, Situationen einzusch\u00e4tzen. Wer damit lebt, dass die eigene Wahrnehmung immer wieder verzerrt und untergraben wird, lernt, an sich und seinen Sinnen zu zweifeln. Erinnere ich mich wirklich richtig? Hatte ich nicht vielleicht doch<\/em> dieses oder jenes im Sinn, als ich das zu ihr sagte? Bin ich vielleicht wirklich<\/em> der Mensch, den der andere aus mir macht? Der Roman zeichnet beklemmend die Ersch\u00fctterung dieses Vertrauens nach. Man m\u00f6chte \u201eUrvertrauen\u201c schreiben und wei\u00df, dass es beiden an genau dieser Form des Glaubens an wohlwollende Umst\u00e4nde und Menschen mangelt. Auch dadurch kann geschehen was in dieser Beziehung geschieht.<\/p>\n\n\n\n

Ich rekapituliere den Tag und frage mich in Schleifen: Hat Kalina von diesem Abendessen erz\u00e4hlt, habe ich nicht richtig hingeh\u00f6rt? Und weshalb ist es mir nicht m\u00f6glich aufzustehen, um mich zu erkl\u00e4ren?<\/em><\/p>\n\n\n\n

Kristian nimmt in dieser Beziehungskonstellation die Position der Leinwand ein, auf die Kalina ihre Szenarien projizieren kann. Er ist eigent\u00fcmlich passiv und unterw\u00fcrfig, verzweifelt darum bem\u00fcht, zu gefallen und den Lebensstil zu imitieren, von dem er hofft, Kalina finde ihn nicht \u201ezu studentisch\u201c. Diese Transformation und das Ausradieren des eigenen Selbst im Angesicht einer vermeintlich erf\u00fcllenden Beziehung mitzuverfolgen, ist schmerzlich und erschreckend. Das Beieinandersein ist von einer erstickenden Ausschlie\u00dflichkeit, Kristian und Kalina leben so stoisch aufeinander bezogen, dass von au\u00dfen kaum in dieses destruktive R\u00e4derwerk eingegriffen werden kann. Sandbergs Liebe<\/em> schildert, wie eine Beziehung entgleist und welche verheerenden Verletzungen psychische Gewalt hinterlassen kann. Nicht nur in der vordergr\u00fcndig geschilderten Beziehungskonstellation, sondern auch in den Beziehungskonstellationen, die ihr vorausgegangen sind. Der Roman macht es sich gl\u00fccklicherweise nicht so einfach, die Katastrophe aus dem Nichts zu imaginieren, er macht auch ihre Wurzeln sichtbar. Es ist ein Roman, der nachwirkt.<\/p>\n\n\n\n

Jan Drees: Sandbergs Liebe<\/a>. Secession Verlag. 190 Seiten. 20,00 \u20ac.<\/strong><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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