{"id":12451,"date":"2018-11-06T17:26:00","date_gmt":"2018-11-06T15:26:00","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12451"},"modified":"2018-11-06T17:26:00","modified_gmt":"2018-11-06T15:26:00","slug":"gastbeitrag-aufbruch-in-eine-reduzierte-welt-dbp18","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2018\/11\/gastbeitrag-aufbruch-in-eine-reduzierte-welt-dbp18\/","title":{"rendered":"Gastbeitrag: Aufbruch in eine reduzierte Welt. #dbp18"},"content":{"rendered":"
In diesem Jahr wurden erstmals offiziell f\u00fcnf Lesekreise<\/a> ausgew\u00e4hlt, die den Deutschen Buchpreis mit Diskussionen und Beitr\u00e4gen begleiten durften. Nun ist der Buchpreis zwar offiziell verliehen – das Gespr\u00e4ch \u00fcber die jeweiligen B\u00fccher darf und kann aber ungehindert weitergehen. Es ging bei der Auswahl der Literaturkreise ziemlich international zu, von Bremerhaven \u00fcber Washington D.C. nach L\u00fcbeck. Und weil ich zuf\u00e4llig in der letztgenannten Stadt lebe, bot sich an, Beitr\u00e4ge dieses Lesekreises (“Klappentext” mit Namen) auch auf meinem Blog zur Verf\u00fcgung zu stellen. In diesem Beitrag schildern Michael Stein und Andreas Mro\u00df ihre Leseeindr\u00fccke zu Gianna Molinaris Hier ist noch alles m\u00f6glich<\/em>.<\/strong><\/p>\n Eine reduzierte Geschichte, n\u00fcchtern und trocken erz\u00e4hlt, f\u00fchrt die Leser*innen in eine teils groteske und absurde Welt. Gepaart mit einem erwartungsvollen Versprechen auf etwas \u00dcberraschendes, ja vielleicht sogar Gro\u00dfes (\u201eHier ist noch alles m\u00f6glich\u201c) wird eine kurze Episode aus dem Leben der Protagonistin erz\u00e4hlt.<\/p>\n Die Erz\u00e4hlerin, die alle Br\u00fccken in ihr bisheriges Leben als Bibliothekarin abgebrochen hat, heuert als Nachtwache auf einem Fabrikgel\u00e4nde an und erh\u00e4lt die Erlaubnis, dort in einem Raum zu wohnen. Sie teilt sich die Nachtwache mit Clemens. Die Schlie\u00dfung der Fabrik steht kurz bevor und die Mitarbeiteranzahl schrumpft. Der Koch versorgt jedoch die Kantine t\u00e4glich aufs Neue mit so viel Suppe, als g\u00e4be es noch die volle Belegschaft. Die Firma schrumpft, die Gefriertruhen quellen \u00fcber. Der Fabrikbesitzer gibt sich gesch\u00e4ftig, auch wenn es kaum noch Gesch\u00e4fte gibt.\u00a0 Und dann ist da der Wolf. Der Koch hat ihn gesehen. Sagt er. <\/a> Lose, ein ehemaliger Maschinenbediener, wechselt von der Fabrik zum Flughafen und \u00fcberl\u00e4sst der Erz\u00e4hlerin eine Sammelmappe \u00fcber den \u201eMann, der vom Himmel fiel\u201c. Er hatte ihn damals fallen sehen ohne es zu wissen. Die Erz\u00e4hlerin folgt der Geschichte von dem Mann, dessen Identit\u00e4t ungekl\u00e4rt blieb, der aber ein afrikanischer Fl\u00fcchtling zu sein schien. Sie besucht Lose auf dem Flughafen und will sehen, ob sich der Mann vielleicht im Fahrwerk eines Flugzeuges h\u00e4tte verstecken und sp\u00e4ter herausfallen k\u00f6nnen. Hier lernt sie die Flugzeugkontrolleurin Erika kennen.<\/p>\n Gleich zu Beginn entfaltet die Autorin eine sch\u00f6ne Bildsprache. Fast unmerklich f\u00fchrt sie die Leser*innen von einem Ort des Geschehens an einen Ort im eigenen Kopf.<\/p>\n \u201eDie Fabrik liegt au\u00dferhalb einer kleinen Stadt. Dort wohnen die wenigen Mitarbeiter, die noch in der Fabrik arbeiten. Rund um die Fabrik liegen Felder, weiter hinten ist der Flughafen. Von meinem Fenster aus kann ich die Flugzeuge landen und starten sehen. Vielleicht ist der Raum zu klein, um ihn als Halle zu bezeichnen. Ich nenne ihn dennoch Halle. Hier hat noch nie zuvor jemand gewohnt. Ich bin die erste Hallenbewohnerin. Wenn ich nachts im Bett liege und an die Decke blicke, meine ich manchmal im Bauch eines Wals zu sein<\/em>.\u201c (S.11).<\/p>\n Fast jede*r hat schon einmal in einer alten Fabrikhalle gestanden und nach oben zur Kuppel gesehen, hat den Blick \u00fcber die in Stahl- oder Eisenfenster eingesetzten kleinen Scheiben schweifen lassen. Im Innern eines Wals – man wei\u00df sofort, was gemeint ist. \u201eIch w\u00fcnsche mir, wie Erika zu sein, eine solche Anleitung zu besitzen und einen Werkzeugkasten mit Schraubenzieher und Zangen und zu wissen, welche Schraube an welchen Ort geh\u00f6rt und aus welchem Grund, einen solchen Overall zu tragen, mit leuchtenden Neonstreifen an den Oberarmen, mich so sicher zu bewegen wie sie, aufrecht mit gro\u00dfen Schritten, mich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen, nicht durch eine fehlerhafte Hydraulik, nicht durch einen abgebrochenen Flugzeugfl\u00fcgel. Mich bringt schon ein unsichtbarer Wolf aus der Fassung<\/em>.\u201c (S.130)<\/p>\n
\nIhm sind sie auf der Spur. Sie wollen ihn sehen. Sie wollen ihn fangen. Mit allen Tricks.<\/p>\n
\nEin Wolf kommt schlie\u00dflich selten allein. Der Gefahr ist zu begegnen. Es gibt ihn. Bestimmt. Auch wenn er sich auf den Aufzeichnungen der \u00dcberwachungskameras Nacht f\u00fcr Nacht nicht zeigt. Aber schlie\u00dflich finden sich Tierhaarb\u00fcschel an einem Loch im Fabrikzaun und bald folgt f\u00fcr die Nachtw\u00e4chter der Auftrag eine drei Meter tiefe Grube aufzuheben. Bei den Arbeiten dazu f\u00e4llt ein etwas au\u00dferhalb des Fabrikzauns stehendes Kreuz in den Blick. Damit beginnt die zweite Geschichte des Buchs. Die vom Mann, der vom Himmel fiel. Diese Geschichte ist der Kontrapunkt zum Wolf.<\/p>\n
\nUnd dann f\u00e4llt einem die Geschichte von Jona ein. Jona, der in den Bauch des Wals gelangt, weil er versucht, sich dem Gebot Gottes durch Flucht zu entziehen. Er weigert sich, in Ninive ein Strafgericht Gottes anzuk\u00fcndigen. Der Aufenthalt im Bauch des Wales dient seiner Disziplinierung und dauert so lange, bis er tut, was Gott verlangt. Oder die Geschichte von Gepetto und Pinocchio, die aus Versehen an diesen unwirtlichen Ort gelangt sind. Sie k\u00f6nnen sich befreien, indem sie gemeinsam den Wal zum Blasen bringen und sich so in das Leben zur\u00fcckbef\u00f6rdern. Auch die Ich-Erz\u00e4hlerin m\u00f6chte ins Leben. Sie sehnt sich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit und m\u00f6chte unterscheiden k\u00f6nnen, was wichtig ist und was nicht; sie m\u00f6chte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich (S. 29). Sie m\u00f6chte andererseits so sein wie Erika:<\/p>\n