{"id":12436,"date":"2018-11-04T14:23:26","date_gmt":"2018-11-04T12:23:26","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12436"},"modified":"2018-11-04T14:23:26","modified_gmt":"2018-11-04T12:23:26","slug":"kurz-und-knapp-rezensiert-im-november-3","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2018\/11\/kurz-und-knapp-rezensiert-im-november-3\/","title":{"rendered":"Kurz und knapp rezensiert im November!"},"content":{"rendered":"

In diesem Monat geht es um \u00c4ngste und deren \u00dcberwindung, das K\u00e4nguru, das Schlechte und eine besondere Art der Erinnerung.<\/strong><\/p>\n

\"\"<\/a>Nachdem Was man von hier aus sehen kann<\/em> im Jahr 2017 ein unerwartet gro\u00dfer Publikumserfolg wurde, hat Dumont sich entschieden, auch \u00e4ltere Werke von Mariana Leky, im Design an den Bestseller angepasst, neu aufzulegen. 2004 erschien der Deb\u00fctroman Erste Hilfe<\/em>, der in Tonfall und Stil schon viel von dem erkennen l\u00e4sst, was Leky sp\u00e4ter ausmachen wird. Im Mittelpunkt stehen Sylvester, die Erz\u00e4hlerin und Matilda, die eines Tages pl\u00f6tzlich von Panik \u00fcberfallen wird, als sie versucht, eine Stra\u00dfe zu \u00fcberqueren. Was, wenn sie pl\u00f6tzlich mitten auf der Stra\u00dfe verr\u00fcckt wird? Was ist, wenn alle das sehen? Matildas Angst wird so \u00fcberm\u00e4chtig, dass sie kaum aus dem Haus gehen kann und auf Anraten ihrer mindestens \u00e4hnlich neurotischen Freunde professionelle Hilfe sucht. Wer bei Leky v\u00f6llig realistische Schilderungen eines Lebens mit krankhafter Angst erwartet, sucht an der falschen Stelle. Erste Hilfe<\/em> ist naiv erz\u00e4hlt, verspielt, humorvoll angesichts der schwierigen Lage. \u00c4hnlich wie auch Was man von hier aus sehen kann <\/em>steckt er voller ungew\u00f6hnlicher Sprachbilder und skurriler Situationen. Wenn die Freunde ein m\u00f6glichst emotional unbelastetes Wort suchen, an das Matilda denken k\u00f6nnte, wenn sie drau\u00dfen wieder Angst bekommt, die Verr\u00fccktheit k\u00f6nne sie hinterr\u00fccks \u00fcberw\u00e4ltigen. Oder wenn die Therapeutin mir ihr in eine Mensa zum Essen geht und verlangt, Matilda solle jetzt bitte im vollen Speisesaal ihr Tablett fallenlassen. Ein Roman, der gut tut, der bes\u00e4nftigt, der nicht zu viel fordert.<\/p>\n

Mariana Leky: Erste Hilfe<\/a>. Dumont. 192 Seiten. 11,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n

\"\"<\/a>Zwei Br\u00fcder laufen durch die Nacht, ziehen von Kneipe zu Kneipe. Einer von ihnen stirbt wenig sp\u00e4ter, die Gespr\u00e4che sind R\u00fcckblenden des Zur\u00fcckgebliebenen, der versucht, sich seinem Bruder anzun\u00e4hern. Die Beziehung der beiden ist nicht unbelastet. Im Schutz diffusen Kneipenlichts erz\u00e4hlt der \u00c4ltere vor allem vom Schlechten und B\u00f6sen in der Welt, von seinen intensiven Besch\u00e4ftigungen mit dem Fall Marc Dutroux als Inbegriff von Grausamkeit, von Krieg, von Gewalt. “Ich \u00e4nderte also meine Taktik, sagte er dann noch, und begann, mein Leben auszurichten nach dem Prinzip, dass es nur eine M\u00f6glichkeit gibt, das Gute zu zeigen, und zwar, indem man das Schlechte erz\u00e4hlt.<\/em>“, hei\u00dft es in einem Absatz. Genau das tut der Roman, indem er in Wellenbewegungen das Schlechte umkreist. Der j\u00fcngere Bruder, Zuh\u00f6rer und nachtr\u00e4glicher Protokollant, zeigt sich eher \u00fcberfordert von den Abgr\u00fcnden, die der \u00c4ltere aufrei\u00dft. Und \u00fcber allem die Frage: Was tun wir, angesichts des B\u00f6sen in der Welt? Wie positionieren wir uns dazu? Wie handeln wir? Wie ist das Gute trotzdem m\u00f6glich? Der Roman entfaltet durch die verschachtelte Erz\u00e4hlform einen unwiderstehlichen Sog. Es f\u00fchlt sich an, als sei der Text st\u00e4ndig in Bewegung, als pulsiere er, als w\u00fcrde man mitgerissen von einer Kraft, die st\u00e4rker ist als man selbst. Das n\u00e4chste Bild, das ihm in den Sinn komme, wenn er an die Geburt seines Kindes denke, ist endlich das Kind, wie es klein, schreiend und dunkelrot auf einer Art Stehpult mit Rollen liegen und f\u00fcr seine geringe K\u00f6rpergr\u00f6\u00dfe erstaunlich laut br\u00fcllen w\u00fcrde, (…), und zwischen Schwester und Arzt, die das Neugeborene untersuchen, w\u00fcrde er ganz deutlich erkennen, was das vor allem anderen ist, Leben: Gewalt<\/em>. Und trotzdem leben wir. Trotzdem \u00fcberwinden wir die Schwerkraft. Jeden Tag.<\/p>\n

Heinz Helle: Die \u00dcberwindung der Schwerkraft<\/a>. Suhrkamp. 208 Seiten. 20,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n

\"\"<\/a>Ein vierter und letzter (?) Teil vom Kleink\u00fcnstler und dem K\u00fcnguru. In den Apokryphen versammeln sich nun neue Geschichten, \u00e4ltere K\u00e4nguru-Episoden aus Klings fr\u00fcherem Programm Wenn alle Stricke rei\u00dfen, kann man sich nicht mal mehr aufh\u00e4ngen <\/em>sowie aus bereits erschienenen Anthologien mit K\u00e4nguru-Beteiligung. Wer die Vorg\u00e4ngerb\u00e4nde gelesen hat, wird auch mit dem aktuellen seinen Spa\u00df haben. Es funktioniert nach dem g\u00e4ngigen Rezept: Mittels Alltagsepisoden und Anekdoten den Finger (oder die Pfote) in politische, gesellschaftliche Wunden legen, Heuchelei blo\u00dfstellen, leere Phrasen demaskieren. Das funktioniert nicht in jedem Text, manche sind extrem kurz und nur auf einen – bisweilen erwartbaren – Witz hin ausgerichtet. Allerdings versammeln die Apokryphen ja, wie eingangs erw\u00e4hnt, \u00e4ltere und aktuelle K\u00e4nguru-Texte, dazwischen ist viel passiert. Viel Gutes. Viel Lustiges. Oder wie Kling wahrscheinlich selbst sagen w\u00fcrde: Viel Sch\u00f6nes dabei.<\/p>\n

Marc-Uwe Kling: Die K\u00e4nguru-Apokryphen<\/a>. Ullstein Verlag. 208 Seiten. 9,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n

\"\"<\/a>Wenn eine Forderung in den Debatten der letzten Jahre geradezu obligatorisch geworden ist, dann die nach Integration<\/em>. Menschen, die aus fremden L\u00e4ndern und Kulturen nach Deutschland k\u00e4men, m\u00fcssten sich integrieren, integrationswillig sein. Je nach Verwender und Kontext unterscheidet sich, was genau unter dieser Integration verstanden wird – sehr h\u00e4ufig aber wird Integration<\/em> gesagt und Assimilation<\/em> gemeint. Die Integration ist dann gelungen, wenn das Fremde unsichtbar geworden ist. Max Czollek, deutsch-j\u00fcdischer Lyriker, Autor und Theatermacher, entwickelt in Desintegriert euch<\/em> nun eine These, die in den letzten Wochen und Monaten rege diskutiert worden ist: Es existiert ein spezifisches Wechselverh\u00e4ltnis zwischen der deutschen Erinnerungskultur einerseits und der j\u00fcdischen Community andererseits. Die Deutschen seien, so Czollek, l\u00e4ngst nicht frei von rechtsextremem, antisemitischem Gedankengut, vielmehr nutzen sie Juden und J\u00fcdinnen in ihrem “Ged\u00e4chtnistheater” als vermeintlichen Beweis f\u00fcr ihre L\u00e4uterung. Czollek zieht eine Linie von Martin Walsers Paulskirchenrede \u00fcber Roman Herzogs Rede von der “Befreiung” der Deutschen hin zum Schland-Patriorismus 2006 und dem Aufstieg rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen. Es gibt einen roten Faden, eine Tendenz, nicht nur sich selbst, sondern auch Familienmitglieder zu entschulden und sich mit den Opfern des Nationalsozialismus gemein zu machen. Daf\u00fcr braucht es “die Juden” in einer ganz bestimmten Rolle, ungeachtet ihrer tats\u00e4chlichen Heterogenit\u00e4t. Deutsche wissen heute \u00fcber Juden vor allem das: dass man sie umgebracht hat<\/em>, schreibt Czollek. In der rbb-Dokumentation “Feindbild Jude<\/a>” kommt \u00c4hnliches zur Sprache als man Passanten dazu befragt, was ihnen einfiele, wenn sie das Wort “Jude” h\u00f6rten: Holocaust, Auschwitz, j\u00fcdische Stereotype und antisemitische Klischees. Czolleks Streitschrift ist im besten Sinne anregend, sie liefert eine ganz neue Perspektive, stimmt nachdenklich. Wie kann und muss Erinnerungskultur aussehen, die nicht in stereotypen Rollenerwartungen erstarrt ist? K\u00f6nnen wir die wieder erstarkenden antisemitischen Narrative \u00fcberhaupt wirksam bek\u00e4mpfen, wenn wir a) nichts voneinander wissen (wollen) und b) leugnen, dass es in Deutschland noch immer ein virulentes Problem ist? Desintegriert euch<\/em> lohnt sich sehr, ein kluges, umsichtiges, provokantes Buch!<\/p>\n

Max Czollek: Desintegriert euch<\/a>. Hanser. 208 Seiten. 18,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

In diesem Monat geht es um \u00c4ngste und deren \u00dcberwindung, das K\u00e4nguru, das Schlechte und eine besondere Art der Erinnerung. Nachdem Was man von hier aus sehen kann im Jahr 2017 ein unerwartet gro\u00dfer Publikumserfolg wurde, hat Dumont sich entschieden, auch \u00e4ltere Werke von Mariana Leky, im Design an den Bestseller angepasst, neu aufzulegen. 2004 erschien der Deb\u00fctroman Erste Hilfe, der in Tonfall und Stil schon viel von dem erkennen l\u00e4sst, was Leky sp\u00e4ter ausmachen wird. Im Mittelpunkt stehen Sylvester, die Erz\u00e4hlerin und Matilda, die eines Tages pl\u00f6tzlich von Panik \u00fcberfallen wird, als sie versucht, eine Stra\u00dfe zu \u00fcberqueren. Was, wenn sie pl\u00f6tzlich mitten auf der Stra\u00dfe verr\u00fcckt wird? Was ist, wenn alle das sehen? Matildas Angst wird so \u00fcberm\u00e4chtig, dass sie kaum aus dem Haus gehen kann und auf Anraten ihrer mindestens \u00e4hnlich neurotischen Freunde professionelle Hilfe sucht. Wer bei Leky v\u00f6llig realistische Schilderungen eines Lebens mit krankhafter Angst erwartet, sucht an der falschen Stelle. Erste Hilfe ist naiv erz\u00e4hlt, verspielt, humorvoll angesichts der schwierigen Lage. \u00c4hnlich wie auch Was man von hier aus …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12437,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[836,2212,16],"tags":[2087,1323,2417,2523],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2018\/11\/DSCN8705.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12436"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12436"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12436\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12442,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12436\/revisions\/12442"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12437"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12436"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12436"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12436"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}