{"id":12326,"date":"2018-07-27T17:13:30","date_gmt":"2018-07-27T15:13:30","guid":{"rendered":"https:\/\/literatourismus.net\/?p=12326"},"modified":"2018-09-09T13:44:32","modified_gmt":"2018-09-09T11:44:32","slug":"garrard-conley-boy-erased","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2018\/07\/garrard-conley-boy-erased\/","title":{"rendered":"Garrard Conley – Boy Erased"},"content":{"rendered":"

Man mag es kaum glauben, aber auch im Jahr 2018 gibt es in Deutschland noch immer Konversionstherapien. Selbsternannte Heiler*innen haben sich darauf spezialisiert, Homosexuelle von ihrer vermeintlichen Erkrankung zu befreien, obwohl l\u00e4ngst klar ist, dass Homosexualit\u00e4t keine Krankheit darstellt. Schon 1990 wurde Homosexualit\u00e4t aus dem Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation gestrichen. Insbesondere im evangelikalen Umfeld l\u00e4sst man sich davon wenig beeindrucken. Der Verein W\u00fcstenstrom titelt beispielsweise auf seiner Webseite: “Heute gibt die Schwulenbewegung (und zunehmend die Gesellschaft als Echo) das Denkverbot: lebe es aus, einen anderen Weg ist nicht denkbar. Wer anders denkt wird mundtot gemacht<\/em>.” Schwulsein gilt in diesen Kreisen vor allem als Ausdruck eines unbew\u00e4ltigten Konflikts oder eines schwelenden Kindheitstraumas. So erlebt es auch Garrard Conley bei der christlichen Ex-Gay Organisation Love in Action<\/em><\/a>.<\/strong><\/p>\n

Homosexualit\u00e4t ist eine Strafe und eine S\u00fcnde, so der tiefe Glaube vieler christlicher Gemeinden. Conley w\u00e4chst in den S\u00fcdstaaten im Umfeld missionarischer Baptisten auf. Sein Vater ist Prediger und ein bekanntes Gesicht in der Kleinstadt, die Unfehlbarkeit der Bibel f\u00fcr die Gemeinde eine unverr\u00fcckbare Tatsache. Eine wesentliche S\u00e4ule der missionarischen Baptisten ist die Seelenrettung, die Anwerbung von Abtr\u00fcnngigen und Verlorenen und ihre Einf\u00fchrung in den Scho\u00df der Kirche. Wer s\u00fcndigt und f\u00fcr seine S\u00fcnden nicht b\u00fc\u00dft, wird im H\u00f6llenfeuer enden. Obwohl Conley fr\u00fch bemerkt, dass er sich eher zu M\u00e4nnern hingezogen f\u00fchlt, erzwingt der religi\u00f6se Dogmatismus seines Umfelds nahezu die Selbstverleugnung. Er f\u00fchlt sich schlecht, er f\u00fchlt sich schuldig, vor Gott, vor seinen Eltern, er f\u00fchlt sich schmutzig. Seine Versuche, mit einem M\u00e4dchen aus der Gemeinde eine Beziehung einzugehen, scheitern am Ende kl\u00e4glich. Zwar sind die beiden zusammen und sich freundschaftlich nah, k\u00f6rperliche Ann\u00e4herungen aber l\u00e4sst Conley kaum zu. Er bricht den Kontakt ab und flieht aufs College. Nachdem er dort von einem Kommilitonen vergewaltigt und von ihm schlie\u00dflich gegen seinen Willen vor seinen Eltern geoutet wird, stellt sein Vater ihm ein Ultimatum. Sollte er sich jemals entscheiden, seine Homosexualit\u00e4t offen zu leben, w\u00fcrde seine Familie ihn nicht mehr unterst\u00fctzen. 2004 beginnt er die “Therapie”.<\/p>\n

Als Verpiss-dich-Uniform trug ich ein Wirrwarr aus zerkl\u00fcfteten Schwarz-Wei\u00df-Linien aus der \u00c4ra von Radioheads Kid A, die nach den spitzen Gipfeln eines albtraumartigen Kilimandscharo aussahen, und sorgte daf\u00fcr, dass sich meine Augen unter dem dunklen Vorsprung meiner Brauen nie vor Freude oder \u00dcberraschung \u00f6ffneten. Wenn ich nicht so viel sagte, wenn die Leute mich nicht bemerkten, k\u00f6nnte ich vielleicht auch Gottes schweifendem Sauron-Auge entkommen.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Conleys Schilderungen der darauffolgenden Konversionstherapien sind so eindringlich wie ersch\u00fctternd. Auf dem 12-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker aufbauend, wird den Betroffenen alles geraubt, was sie als individuelle Pers\u00f6nlichkeit auszeichnet. Homosexualit\u00e4t, so der Konsens, sei eine Sucht, die sich in ihrer Funktionsweise nicht wesentlich von anderen S\u00fcchten unterscheide. Wer an den Programmen teilnehmen will, muss sich selbst radikal in Frage stellen, muss sich ausl\u00f6schen. Conley gibt am Eingang nicht nur sein Handy und sein Notizbuch ab, er wird von anderen auch auf seine K\u00f6rperhaltung und seine Einstellung hin kontrolliert. Die Teilnehmer*innen m\u00fcssen ihre Familienstammb\u00e4ume zur\u00fcckverfolgen, um den vermeintlichen Ursprung ihrer “St\u00f6rung” ausfindig zu machen, sie m\u00fcssen schlechte Gedanken und sexuelle Fantasien beichten. Was sich als Hilfe geriert, ist viel mehr eine Umerziehungsanstalt, die Menschen mittels Gehirnw\u00e4sche und st\u00e4ndiger Befragungen im Innersten aush\u00f6hlt. Viele wissen nicht mehr, wer sie sind, wof\u00fcr sie stehen oder was sie m\u00f6gen. W\u00e4hrend Conley “nur” zwei Wochen bei Love in Action verbringt, verlassen andere die M\u00fchlen dieses Systems viele Jahre nicht. F\u00fcr sie wird die st\u00e4ndige Observation der eigenen falschen Gedanken und des unreinen Innenlebens zum Automatismus, die Selbstgei\u00dfelung Alltag. Irgendwann wechseln sie die Seiten und “therapieren” selbst. Ein Teilnehmer spricht immer wieder \u00fcber seine Suizidgedanken.<\/p>\n

Boy Erased<\/em> stellt die Funktionsweise von Konversationstherapien und ihre unmittelbare Wirkung auf Selbstwahrnehmung und Gedankenwelt en detail dar. Es ist kaum m\u00f6glich, davon nicht ersch\u00fcttert zu sein. Dabei ger\u00e4t die Betrachtung des famili\u00e4ren Umgangs und des ganz eigenen Beitrags seiner Eltern manchmal etwas zu kurz. Zwar berichtet er immer wieder von der Verzweiflung seiner Eltern, ihrem Wunsch, seinen Testosteronspiegel testen zu lassen und der wachsenden Skepsis seiner Mutter angesichts seines Zustands w\u00e4hrend der “Therapie”, das Ende jedoch wird recht schnell abgehandelt.<\/p>\n

Jahre sp\u00e4ter werde ich eines Nachmittags meinen Vater anrufen, um ihn wissen zu lassen, dass ich dieses Buch schreiben muss, dass es mir nicht besser gehen wird, wenn ich es nicht endlich schreibe, dass ich nicht wissen werde, wer ich bin, bis ich es geschrieben habe. “Ich will nur, dass du gl\u00fccklich bist”, wird mein Vater sagen, die Stimme zugeschn\u00fcrt von allem, was er ablehnt. “Wirklich.” Und ich werde ihm glauben.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Nichtsdestotrotz ist Boy Erased<\/em> nicht nur der eindrucksvolle, ber\u00fchrende Weg Conleys zu sich selbst, es ist auch ein ersch\u00fctterndes Dokument menschlicher Verblendung und Gewalt. Was die Teilnehmer*innen dieser Konversionstherapien vor dem Hintergrund “christlicher N\u00e4chstenliebe” durchleiden m\u00fcssen, braucht eine breitere Kenntnisnahme der \u00d6ffentlichkeit. Gegenw\u00e4rtig wird Conleys autobiographischer Bericht gerade verfilmt – ich bin gespannt! Bis er im Herbst in die Kinos kommt, ist jedenfalls noch gen\u00fcgend Zeit, dieses fantastische Buch zu lesen.<\/p>\n