{"id":12132,"date":"2018-03-22T21:11:43","date_gmt":"2018-03-22T19:11:43","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=12132"},"modified":"2018-03-22T21:11:43","modified_gmt":"2018-03-22T19:11:43","slug":"claudia-rankine-citizen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2018\/03\/claudia-rankine-citizen\/","title":{"rendered":"Claudia Rankine – Citizen"},"content":{"rendered":"

Schwarz zu sein, bedeutet auch in der Gegenwart noch besch\u00e4mend h\u00e4ufig, aufgrund dieses eigentlich bedeutungslosen Merkmals ausgegrenzt, diskriminiert und erniedrigt zu werden. “Der Schwarze” ist, wie viele rassistische oder antisemitische Stereotypen, nicht viel mehr als eine Konstruktion, die \u00fcber Jahrhunderte hinweg tradiert worden ist. Tradiert von denen, die die Macht dazu hatten. Tradiert von denen, die sich ihrer selbst so wenig sicher waren, dass sie andere Menschen abwerten mussten, um sich ihres eigenes Wertes zu versichern. Bis heute. “Othering” wird der Prozess genannt, der das Fremde in Abgrenzung zum Eigenen definiert und hervorhebt. Claudia Rankine beschreibt in ihrem 2014 im Original erschienenen lyrischen Essay (oder ihrer essayistischen Lyrik?) die zerst\u00f6rerische Kraft von Mikroaggression<\/a> und offenem Rassismus.<\/strong><\/p>\n

Rassismus muss nicht intendiert sein, um rassistisch zu sein. Grenz\u00fcberschreitende, abwertende Kommunikation kann auch im Alltag stattfinden, zwischen T\u00fcr und Angel. Dort, wo man sie nicht erwartet. Dort, wo sie schlimmstenfalls vielleicht sogar positiv gemeint ist, aber implizit eine Herabw\u00fcrdigung des Gegen\u00fcbers darstellt. Claudia Rankine stammt urspr\u00fcnglich aus Jamaika und ist schwarz. Es w\u00e4re sch\u00f6n, wenn das nicht von Belang w\u00e4re. Sch\u00f6n, wenn man es nicht erw\u00e4hnen m\u00fcsste. In Citizen <\/em>aber ist es immer wieder Thema, weil es von anderen in s\u00e4mtlichen Situationen immer wieder aufgeworfen wird. Claudia Rankine macht, wie viele andere Schwarze, die Erfahrung, dass sie sich nicht selbst geh\u00f6rt. Ihr K\u00f6rper – oder genauer: ihre Hautfarbe – ist ein Politikum, f\u00fcr viele Menschen gar ein Ausschlusskriterium. Bevor sie als Mensch wahrgenommen wird, wird sie als Schwarze wahrgenommen, mit all den Zuschreibungen und Stereotypen, die das gew\u00f6hnlich mit sich bringt. Was macht diese Art der Betrachtung mit einem Menschen? Wie gelingt es einem, sich gegen diese Zuschreibungen zu wehren? Kann es \u00fcberhaupt gelingen?<\/p>\n

Und wo w\u00e4re der sicherste Ort, wenn der Ort ein anderer sein muss als der K\u00f6rper?<\/em><\/p><\/blockquote>\n

In den USA schwarz zu sein, bringt zahllose Risiken mit sich. Von struktureller Benachteiligung abgesehen auch das existentielle Risiko, von Polizeigewalt betroffen zu sein. Die Ereignisse der letzten Jahre sind einem lebhaft im Ged\u00e4chtnis geblieben, Claudia Rankine widmet den Opfern einer Doppelseite – sie hei\u00dfen Eric Garner, Tamir Rice, Trayvon Martin,\u00a0Philando Castile oder John Crawford. Zwischen den Auflagen des englischen Originals wird die Liste aktualisiert (Empfehlenswert hierzu \u00fcbrigens auch die Netflix-Dokumentation \u00fcber den Fall Kalief Browder<\/a>). Es gen\u00fcgt im Zweifelsfall, schwarz zu sein, um eines Verbrechens verd\u00e4chtigt zu werden. Die Hautfarbe \u00fcberstrahlt alles, macht sichtbar und unsichtbar zugleich. Sie hebt die Andersartigkeit hervor und l\u00f6scht den Menschen aus. Claudia Rankine schreibt dazu treffend: Und du bist nicht ihr Mann, und trotzdem passt die Beschreibung, weil es nur einen gibt, der immer der Mann ist, auf den die Beschreibung passt<\/em>. Der Mann ist schwarz, die Beschreibung trifft einen und alle.<\/p>\n

Eine Brise ber\u00fchrt deine Wange, wenn es sonst keiner tut.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Rankine widmet sich in verschiedenen Kapiteln in vielf\u00e4ltiger Form dieser Liebenswirklichkeit. In kleinen Miniaturen, die bereits beim Lesen Schmerzen verursachen: der Besuch bei einer Psychotraumatologin, die “Verschwinden Sie” br\u00fcllt, als sie noch nicht wei\u00df, dass die schwarze Frau vor ihrem Haus einen Termin mit ihr vereinbart hat. Der schwarze Mann in der U-Bahn, um den sich eine Blase, eine warnende Leere ausbreitet, weil niemand sich neben ihn setzen will.Der Nachbar, der sofort die Polizei ruft, weil sich ein unbekannter Schwarzer vor seinem Haus aufh\u00e4lt. Der Dekan, der sich beschwert, dass er eine Stelle an der Universit\u00e4t mit einer Person of Color besetzen muss, “wo es da drau\u00dfen doch so viele begabte Schriftsteller gebe”. Scharfsichtig analysiert Claudia Rankine auch den Umgang von Medien mit Serena Williams, der schwarzen Tennisspielerin, deren Leistungen man in einem zutiefst wei\u00dfen Sport mit g\u00e4nzlich anderem Ma\u00df misst. Es sind kleine Nadelstiche und gr\u00f6\u00dfere Ausf\u00e4lligkeiten, die bei manchen, so auch bei Serena Williams, zur Wut f\u00fchren und im Klischee des “zornigen Niggers” gerinnen. Selbst diese gesunde Wehrhaftigkeit wird gegen die Betroffenen instrumentalisiert. Wie kann man dieses Rollenspiel \u00fcberhaupt durchbrechen? In Claudia Rankines Texten schwingt immer ein von ihr auch so benanntes “Seufzen” mit, das Gef\u00fchl einer Schuld, das Gef\u00fchl von Scham. Ersch\u00f6pfung dar\u00fcber, immer mehr leisten zu m\u00fcssen als andere, um so gew\u00fcrdigt zu werden wie andere. Citizen<\/em> beschreibt, mal essayistisch, mal lyrisch, mal in Form von Textcollagen einen Kampf, der nicht enden will. Aber er macht ihn in einer offenherzigen, ber\u00fchrenden und poetischen Art sichbar. Er adressiert ganz klar das “Du”, er ruft implizit dazu auf, sich selbst hineinzuversetzen in Situationen wie sie Schwarze t\u00e4glich erleben. Stell dir vor, sagt er, du<\/em> erlebst das, du<\/em> erleidest das. Und: Stell dir vor, wir k\u00f6nnten alle zuerst Menschen sein, bevor wir irgendetwas anderes sein m\u00fcssen.<\/p>\n

Nach einem kurzen Telefonat versprichst du dem Gesch\u00e4ftsf\u00fchrer am Apparat, vorbeizukommen und das Formular auszuf\u00fcllen. Als du das B\u00fcro betrittst und dich vorstellst, platzt er heraus: Aber Sie sind ja schwarz!<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Claudia Rankine: Citizen. Aus dem Amerikanischen von Uda Str\u00e4tling. Spector Books<\/a>. 182 Seiten. 14,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Schwarz zu sein, bedeutet auch in der Gegenwart noch besch\u00e4mend h\u00e4ufig, aufgrund dieses eigentlich bedeutungslosen Merkmals ausgegrenzt, diskriminiert und erniedrigt zu werden. “Der Schwarze” ist, wie viele rassistische oder antisemitische Stereotypen, nicht viel mehr als eine Konstruktion, die \u00fcber Jahrhunderte hinweg tradiert worden ist. Tradiert von denen, die die Macht dazu hatten. Tradiert von denen, die sich ihrer selbst so wenig sicher waren, dass sie andere Menschen abwerten mussten, um sich ihres eigenes Wertes zu versichern. Bis heute. “Othering” wird der Prozess genannt, der das Fremde in Abgrenzung zum Eigenen definiert und hervorhebt. Claudia Rankine beschreibt in ihrem 2014 im Original erschienenen lyrischen Essay (oder ihrer essayistischen Lyrik?) die zerst\u00f6rerische Kraft von Mikroaggression und offenem Rassismus. Rassismus muss nicht intendiert sein, um rassistisch zu sein. Grenz\u00fcberschreitende, abwertende Kommunikation kann auch im Alltag stattfinden, zwischen T\u00fcr und Angel. Dort, wo man sie nicht erwartet. Dort, wo sie schlimmstenfalls vielleicht sogar positiv gemeint ist, aber implizit eine Herabw\u00fcrdigung des Gegen\u00fcbers darstellt. Claudia Rankine stammt urspr\u00fcnglich aus Jamaika und ist schwarz. Es w\u00e4re sch\u00f6n, wenn das nicht von …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12136,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839,840],"tags":[2476,2475,2477],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2018\/03\/rankine.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12132"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12132"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12132\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12145,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12132\/revisions\/12145"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12136"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12132"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12132"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12132"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}