{"id":12058,"date":"2018-01-22T20:55:03","date_gmt":"2018-01-22T18:55:03","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=12058"},"modified":"2018-01-22T20:55:03","modified_gmt":"2018-01-22T18:55:03","slug":"offene-regale-statt-schubladen-franziska-seyboldt-im-interview","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2018\/01\/offene-regale-statt-schubladen-franziska-seyboldt-im-interview\/","title":{"rendered":"Offene Regale statt Schubladen: Franziska Seyboldt im Interview!"},"content":{"rendered":"

Vor knapp zwei Wochen erschien Rattatatam mein Herz<\/a>, Franziska Seyboldts Erfahrungsbericht \u00fcber das Leben mit einer Angstst\u00f6rung. Im Interview spreche ich als selbst Betroffene mit ihr \u00fcber ihre Beweggr\u00fcnde, mit ihrer Angst an die \u00d6ffentlichkeit zu gehen und wie wir in Zukunft besser \u00fcber psychische Erkrankungen sprechen k\u00f6nnen.<\/em><\/p>\n

Was hat f\u00fcr dich den Ansto\u00df gegeben, dich \u00f6ffentlich zu deiner Angst zu bekennen?<\/b><\/p>\n

Zuerst wollte ich einfach einen \u201eIch-Text\u201c schreiben, weil mich das Thema ja schon sehr lange besch\u00e4ftigt. Ich finde es immer spannend, in fremde K\u00f6pfe reinzuschauen und gehe deshalb davon aus, dass es anderen Menschen auch so geht. Bei der Recherche habe ich dann erstens festgestellt, dass viel mehr Menschen von Angstst\u00f6rungen betroffen sind, als ich dachte. Und zweitens, dass Betroffene zwar dar\u00fcber schreiben, aber so gut wie nie unter ihrem echten Namen. Das hat mich stutzig gemacht, da ich immer gedacht hatte, dass psychische Erkrankungen eigentlich kein Tabu mehr sind \u2013 oder zumindest kein so gro\u00dfes wie noch vor zehn Jahren. An dem Punkt wurde mir klar: Wenn ich diesen Text schreibe, dann unter meinem Klarnamen. F\u00fcr das Buch galt das dann nat\u00fcrlich auch.<\/p>\n

Hattest du Bedenken oder Zweifel, bevor du dich entschieden hast?<\/b><\/p>\n

Am Anfang ja. Ich bin sehr lange alle M\u00f6glichkeiten durchgegangen: Was passiert danach? Ist es wirklich eine gute Idee, mein Innerstes nach au\u00dfen zu kehren? Bin ich dann f\u00fcr immer die mit der Angst? Nat\u00fcrlich habe ich auch mit Familie und Freunden dar\u00fcber gesprochen \u2013 und mit meinem Therapeuten, der mich bei meinem Vorhaben sehr unterst\u00fctzt hat \u2013, und fast alle waren der Meinung, dass ich es tun sollte. Diejenigen, die dagegen argumentiert haben, wollten mich besch\u00fctzen und hatten zum Beispiel Sorge, dass ich danach vielleicht keinen Job mehr bekomme. Die gute, alte Stigmatisierung eben. Das hat mich in meiner Entscheidung, mit dem Thema an die \u00d6ffentlichkeit zu gehen, aber eher noch best\u00e4rkt, weil ich dachte: Das kann doch echt nicht sein, dass man wegen einer Angstst\u00f6rung nicht eingestellt oder gek\u00fcndigt wird! Aber ich war mir auch ziemlich sicher, dass mir das als Journalistin und Autorin nicht passieren wird \u2013 schreiben kann man schlie\u00dflich trotzdem. Das macht es nat\u00fcrlich deutlich leichter, sich zu \u201eouten\u201c.<\/p>\n

Ist die Angst f\u00fcr dich heute, nach dem taz-Artikel und nach dem Buch, eine andere? Hat sie sich ver\u00e4ndert in Wesen und Auftreten?<\/b><\/p>\n

Die Angst kommt mittlerweile definitiv seltener vorbei als fr\u00fcher. Das ist allerdings eine Entwicklung, die schon vor dem Text und dem Buch begonnen hat, n\u00e4mlich als ich mich intensiv mit ihr auseinandergesetzt habe. Nach dem taz-Artikel war da eine gro\u00dfe Erleichterung, dass ich keine Energie mehr darauf verwenden muss, die Angst zu verstecken. Allerdings war sie danach auch ziemlich sauer, dass ich sie an die \u00d6ffentlichkeit gezerrt habe. Drohte mir mit Klagen wegen Pers\u00f6nlichkeitsrechten und zickte m\u00e4chtig rum. Das Buch habe ich dann dazu genutzt, mir die Angst so zurechtzuschreiben, wie ich sie haben wollte \u2013 ein unbewusster Prozess. Eigentlich wollte ich den Leserinnen und Lesern einfach ein nachvollziehbares Bild meiner Angst zeichnen. Beim Schreiben kam der Spa\u00df, die Angst entwickelte einen eigenen Charakter, und am Ende habe ich mir die Figur sogar selbst geglaubt. Wenn ich jetzt Panik bekomme, denke ich an die Angst aus dem Buch \u2013 und pl\u00f6tzlich ist sie gar nicht mehr so gruselig wie fr\u00fcher.<\/p>\n

\"\"<\/a>\u00a9 Linda Rosa Saal<\/span><\/p>\n

Gab es auch Reaktionen auf das Buch, die dich ge\u00e4rgert haben?<\/b><\/p>\n

Im Vorfeld gab es mal jemanden, der etwas \u00fcberheblich mit den Worten reagiert hat: \u201eAch ja, Angstst\u00f6rung, das haben ja gerade alle.\u201c Er bezog sich vermutlich auf den angeblichen Medienhype, und dass man mit dem Thema momentan Kasse macht. Daran hatte ich schon kurz zu knabbern, weil das einfach Quatsch ist \u2013 eine Angstst\u00f6rung ist ja kein neuer, hipper Sneaker von Adidas. Die Aussage zeugt au\u00dferdem von wenig Empathie, denn ich gehe mal davon aus, dass alle Betroffenen sehr froh w\u00e4ren, wenn sie die Angst nicht als st\u00e4ndigen Begleiter h\u00e4tten. Aber ansonsten gab es bisher ausschlie\u00dflich positive Reaktionen, was mich wirklich wahnsinnig freut.<\/p>\n

Ich sto\u00dfe mich pers\u00f6nlich immer etwas an der Forderung, dass man seine Angst lieben und akzeptieren sollte und denke oft: Wie soll ich etwas lieben, das mir mein Leben so schwierig macht? Denkst du, man sollte die Angst annehmen oder bek\u00e4mpfen? <\/b><\/p>\n

Unbedingt annehmen! Je mehr man sie bek\u00e4mpft, desto weniger wird man die Angst los. Sie klammert sich dann umso mehr an einem fest und taucht pl\u00f6tzlich an Orten auf, wo man sie bisher noch nie gesehen hat. Am besten r\u00fcckt man ihr so richtig auf die Pelle, dann wird es ihr selber zu eng. Aber ich verstehe dein Unbehagen absolut, mir ging es anfangs auch so. Nat\u00fcrlich ist der Reflex erst mal: \u201eIgitt, die soll weggehen!\u201c Was mir au\u00dferdem beim Prozess des Akzeptierens bis hin zum Lieben geholfen hat: Die Angst ist ja eigentlich eben gerade nicht da, um einen zu \u00e4rgern. Sie ist nur das Symptom f\u00fcr eine Ursache wie zum Beispiel Stress, oder dass man sich gerade \u00fcberfordert. Und jemanden zu lieben, der einem sagt: \u201eStopp, leg mal die Arbeit weg und dich in die Badewanne\u201c, ist ja eigentlich nicht so schwer. Nur \u00fcber die Art des Kommunizierens l\u00e4sst sich nat\u00fcrlich streiten. Das geht auch netter. Aber Freundlichkeit und Diplomatie sind nun mal nicht gerade Eigenschaften, f\u00fcr die die Angst bekannt ist.<\/p>\n

Im Buch beschreibst du u.a., wie eine Freundin, die von deinem Buchprojekt erf\u00e4hrt, ganz erstaunt ist, weil sie dich nicht f\u00fcr eine Betroffene gehalten h\u00e4tte. Was glaubst du, welche Vorurteile \u00fcber Angstst\u00f6rungen am langlebigsten sind? Und welche am sch\u00e4dlichsten?<\/b><\/p>\n

Menschen mit Angstst\u00f6rung sind verdruckst, komisch, sch\u00fcchtern und schreckhaft, haben st\u00e4ndig zitternde H\u00e4nde und Schwei\u00dfflecken und werden rot, wenn man sie anspricht. Deshalb sitzen sie auch die meiste Zeit bibbernd in Embryostellung in einer Zimmerecke und bei\u00dfen auf ihre Fingerkn\u00f6chel. Man muss sich nur mal die Bebilderungen zu Texten \u00fcber \u00c4ngste anschauen, um einen Eindruck von den Vorurteilen zu bekommen. Besonders destruktiv ist meines Erachtens das Klischee, dass Betroffene grunds\u00e4tzlich immer Angst haben, vor wirklich allem, und ihr Leben nicht allein auf die Reihe bekommen. Damit schubst man sie in einen unfreiwilligen Opferstatus. Und wenn einem niemand mehr etwas zutraut, glaubt man das im schlimmsten Fall irgendwann selbst.<\/p>\n

\"\"<\/a><\/p>\n

Frauen sind statistisch h\u00e4ufiger von Angstst\u00f6rungen betroffen als M\u00e4nner. Hast du eine Idee, woran das liegt?<\/b><\/p>\n

Angst haben gilt in unserer Gesellschaft als Schw\u00e4che. \u201eAngsthase\u201c, \u201eSchisser\u201c und \u201eFeigling\u201c sind lauter Begriffe, mit denen besonders gerne M\u00e4nner beschimpft werden. Und wir sind zwar weiter als vor 30 Jahren, aber echte Kerle sollen nach wie vor stark sein und Gef\u00fchle nur wohldosiert rauslassen \u2013 im Zweifel auch lieber Wut als Angst. Deshalb Theorie Nummer eins: M\u00e4nner l\u00fcgen in den Statistiken. Oder, wenn man noch einen Schritt zur\u00fcckgeht: Sie geben ihre vermeintliche Schw\u00e4che vielleicht nicht mal sich selbst gegen\u00fcber zu. Theorie Nummer zwei: Die Statistiken stimmen und es sind wirklich mehr Frauen betroffen, weil sie eben nicht von klein auf auf St\u00e4rke getrimmt werden und deshalb einen engeren Bezug zu ihren Gef\u00fchlen und damit auch der Angst haben. Ich tendiere aber ehrlich gesagt zu Theorie Nummer eins.<\/p>\n

Eine gro\u00dfe Sorge vieler Betroffenen ist die Stigmatisierung, im privaten wie im beruflichen Bereich. Gerade in Zeiten von Social Media kann ein \u00f6ffentliches Bekenntnis zu einer psychischen Erkrankung z.B. die Chancen auf einen Job schm\u00e4lern. Gibt es einen Ausweg aus dieser Lage?<\/b><\/p>\n

Wenn sich alle Betroffenen outen w\u00fcrden, w\u00e4re das jeder Sechste. Irgendwann w\u00e4re es f\u00fcr Arbeitgeber ganz sch\u00f6n schwierig, ihre Stellen mit jemandem zu besetzen, der noch nie ein psychisches Problem hatte \u2013 vor allem, wenn man auch noch die Menschen mit Depressionen, Burn-out, Zwangserkrankungen etc. dazuz\u00e4hlt. Sp\u00e4testens dann m\u00fcssten potenzielle Arbeitgeber zwangsl\u00e4ufig umdenken. Abgesehen davon ist es ja ein Zeichen von St\u00e4rke, sich mit seinen Schw\u00e4chen auseinanderzusetzen. Und der typische Satz beim Vorstellungsgespr\u00e4ch \u2013 \u201eMeine gr\u00f6\u00dfte Schw\u00e4che? Ach, ich bin immer so schrecklich perfektionistisch!\u201c \u2013 wird langsam auch echt langweilig.<\/p>\n

Wie k\u00f6nnte ein gesellschaftlicher Umgang mit Angstst\u00f6rungen (oder psychischer Erkrankung im Allgemeinen) im Idealfall aussehen?<\/b><\/p>\n

In der perfekten Welt gibt es keine Kommoden mehr, sondern nur noch offene Regale. Es l\u00e4sst sich einfach so schlecht atmen, wenn man in eine Schublade gesteckt wird. Und dunkel ist es da drin auch. Statt Stretching im Fitnessstudio empfehle ich Flexibilit\u00e4tstraining f\u00fcrs Gehirn, und \u00fcber den eigenen Tellerrand zu schauen wird olympische Disziplin. Das gilt \u00fcbrigens in jeder Hinsicht, nicht nur f\u00fcr psychische Erkrankungen.<\/p>\n

Gibt es Tipps f\u00fcr Betroffene, von denen du dir w\u00fcnschst, dass du sie eher bekommen h\u00e4ttest?<\/b><\/p>\n

Ich h\u00e4tte gerne fr\u00fcher erkannt, dass die Angst nicht das eigentliche Problem ist, sondern nur ein Symptom. Andererseits glaube ich auch fest daran, dass man seinen Weg selbst gehen muss, mit allen Erfahrungen, Tipps und Sackgassen. Manchmal ist man einfach noch nicht so weit, bestimmte Dinge zu kapieren. Zum Gl\u00fcck kommt mit dem \u00c4lterwerden auch mehr Gelassenheit \u2013 oder, um es mit dem Satz zu formulieren, den ich meinem Buch vorangestellt habe: Es ist, wie es ist.<\/p>\n

Beitragsbild: \u00a9 Linda Rosa Saal<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Vor knapp zwei Wochen erschien Rattatatam mein Herz, Franziska Seyboldts Erfahrungsbericht \u00fcber das Leben mit einer Angstst\u00f6rung. Im Interview spreche ich als selbst Betroffene mit ihr \u00fcber ihre Beweggr\u00fcnde, mit ihrer Angst an die \u00d6ffentlichkeit zu gehen und wie wir in Zukunft besser \u00fcber psychische Erkrankungen sprechen k\u00f6nnen. Was hat f\u00fcr dich den Ansto\u00df gegeben, dich \u00f6ffentlich zu deiner Angst zu bekennen? Zuerst wollte ich einfach einen \u201eIch-Text\u201c schreiben, weil mich das Thema ja schon sehr lange besch\u00e4ftigt. Ich finde es immer spannend, in fremde K\u00f6pfe reinzuschauen und gehe deshalb davon aus, dass es anderen Menschen auch so geht. Bei der Recherche habe ich dann erstens festgestellt, dass viel mehr Menschen von Angstst\u00f6rungen betroffen sind, als ich dachte. Und zweitens, dass Betroffene zwar dar\u00fcber schreiben, aber so gut wie nie unter ihrem echten Namen. Das hat mich stutzig gemacht, da ich immer gedacht hatte, dass psychische Erkrankungen eigentlich kein Tabu mehr sind \u2013 oder zumindest kein so gro\u00dfes wie noch vor zehn Jahren. An dem Punkt wurde mir klar: Wenn ich diesen Text schreibe, dann …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":12059,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[836],"tags":[881,2458,2457,1238],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2018\/01\/seyboldt.png","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12058"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12058"}],"version-history":[{"count":8,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12058\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12069,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12058\/revisions\/12069"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12059"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12058"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12058"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12058"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}