{"id":11899,"date":"2017-09-21T17:27:16","date_gmt":"2017-09-21T15:27:16","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11899"},"modified":"2017-09-21T17:31:36","modified_gmt":"2017-09-21T15:31:36","slug":"andrea-gerk-lob-der-schlechten-laune","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2017\/09\/andrea-gerk-lob-der-schlechten-laune\/","title":{"rendered":"Andrea Gerk – Lob der schlechten Laune"},"content":{"rendered":"

Wohin mit schlechter Laune in einer Gesellschaft, die positives Denken zur Grundvoraussetzung erf\u00fcllten Lebens macht? \u00dcberall solle man gl\u00fccklich sein, konstruktiv, begeistert, voller Tatendrang, das Leben genie\u00dfen. Ist schlechte Laune also immer ein destruktives Element? Und was ist das \u00fcberhaupt, \u00bbschlechte Laune\u00ab? Andrea Gerk hat eine kleine Kulturgeschichte dieser untersch\u00e4tzten Stimmungslage geschrieben, die implizit auch eine Kritik am Optimismuswahn unserer Zeit ist.<\/strong><\/p>\n

Schlechte Laune gilt in diesen Tagen als ein Umstand, den man so schnell wie m\u00f6glich beseitigen muss. Das Leben ist zu kurz, um mies drauf zu sein. Wie<\/em> einem das gelingt, verraten unz\u00e4hlige Ratgeber aus dem Bereich optimistischen Lebensf\u00fchrung. Wenn<\/em> einem das nicht gelingt, ist man wahrscheinlich ein unverbesserlicher, ineffizienter Stinkstiefel, der im Jammertal ganz selbstverantwortlich Rast macht. Was schlechte Laune ist, variiert je nach Definition. Eine kleine Verstimmung ohne akuten Ausl\u00f6ser, ein Leiden an der Verfasstheit der Welt, die so viel besser sien k\u00f6nnte als sie ist, ein eruptives Gebrodel im Inneren. Weltschmerz, \u00c4rger, Wut, Entt\u00e4uschung. Andrea Gerk pr\u00e4sentiert einen launigen Querschnitt durch die Niederungen seelischen Missbehagens. Mittels vieler Beispiele aus Literatur und Film macht sie deutlich: Schlechte Laune tr\u00e4gt zu Erheiterung und Inspiration bei, wenn sie uns in fiktivem Kontext begegnet. Was uns im Alltag nervt\u00f6tend und ungeh\u00f6rig erschiene, entfaltet zwischen Buchdeckeln, auf einer Theaterb\u00fchne oder vor einer Filmkamera einen ganz eigenen Reiz. Dort gibt es Querulanten, N\u00f6rgler und Pessimisten en masse und h\u00e4ufig sind sie im Gegensatz zu ihren daueroptimistischen Pendants die interessanteren Figuren.<\/p>\n

Wer gut drauf ist, schreibt keine \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab, sondern kauft sich ein Eis und legt sich in die H\u00e4ngematte.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Schlechte Laune kann ein produktives Element haben, sofern sie kein selbstvergessenes Geifern ohne Vision ist. Wer sich tiefsch\u00fcrfende Gedanken macht, hat in der Regel zuvor einen Mangel erkannt, ein Problem oder irgendetwas jedenfalls, das die l\u00e4ngere gedankliche Besch\u00e4ftigung lohnt. Wie viele kluge, bei\u00dfende, aufr\u00fcttelnde Werke der Kunst, Literatur und Musik w\u00e4ren im blinden Zustand der euphorischen Hochstimmung nie entstanden? Gedanken der sinnierenden, hinterfragenden Art entstehen nicht in Gl\u00fccksmomenten. Gl\u00fcck will man auskosten, statt intensiv dar\u00fcber nachzudenken. \u00dcberhaupt gilt es zu hinterfragen, weshalb die Vorstellung, Ziel des Lebens sei, m\u00f6glichst permanent gl\u00fccklich zu sein, eigentlich so sehr an Boden gewinnen konnte. In Wut wiederum steckt eine Menge Energie, die, erst einmal freigesetzt, Neues anregen kann. Gerk stellt klar, dass die Wut kein Selbstzweck sein darf, kein Instrument zur willk\u00fcrlichen Herabsetzung, wenn sie ihr produktives Moment entfalten soll. Nicht alles, was Wut und \u00c4rger hei\u00dft, st\u00f6\u00dft Sinnvolles an. Gerade heute muss man das betonen, wo es mancherorts bereits als sch\u00fctzenswerte Meinungs\u00e4u\u00dferung gilt, haarstr\u00e4ubende Beleidigungen abzusondern.<\/p>\n

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Ehrenreichs Buch [Anmerkung: Barbara Ehrenreich – Smile or die] zeigt nicht nur \u00fcberzeugend, wie geistlos und realit\u00e4tsfern die Leerformeln des positiven Denkens sind, sondern auch deren Gef\u00e4hrlichkeit. Denn wenn alles, sogar eine Krebserkrankung, Arbeitslosigkeit oder der Verlust des Partners, nur von der eigenen inneren Einstellung abh\u00e4ngt, wird alle Verantwortung dem Einzelnen angelastet und nicht etwa den gesellschaftlichen Umst\u00e4nden, die es zu \u00e4ndern gilt, der Umweltverschmutzung oder auch dem Zufall.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Wilhelm Schmid, Philosoph, denkt gar \u00fcber ein Grundrecht auf schlechte Laune nach. Nicht, weil es andersherum erstrebenswert w\u00e4re, unentwegt zu n\u00f6rgeln und zu gr\u00fcbeln, sondern weil ein ausgeglichenes Seelenleben beide Pole des emotionalen Spektrums umfassen sollte. Regelm\u00e4\u00dfig wird er daf\u00fcr auf Lesungen in hitzige Diskussionen verwickelt. Es sei doch schlie\u00dflich nichts gegen Optimismus zu sagen. Andrea Gerk schildert nicht nur, wo und warum schlechte Laune ihre Berechtigung hat und einen Zweck erf\u00fcllt, sie f\u00fchrt auch an, wo Optimismus sogar krank machen kann. Etwa im Dienstleistungsgewerbe, wo ein debiles Dauergrinsen entgegen jeder Vernunft die Stimmung nicht zum Besseren beeinflusst. Andrea Gerk, die bereits mit Lesen als Medizin<\/a> ein hochinteressantes und klischeefreies Pl\u00e4doyer f\u00fcr das Lesen geschrieben hat, gelingt dasselbe auch jetzt. Sie n\u00e4hert sich multiperspektivisch in anregenden Streifz\u00fcgen dem Ph\u00e4nomen der schlechten Laune (und seinem geographischen Epizentrum: \u00d6sterreich), fragt Experten, die mal aus der Philosophie und mal aus dem Hotelgewerbe kommen; alles in einem lockeren, gewinnenden Ton. Selbst wenn man wollte: Es ist unm\u00f6glich, angesichts dieses Buches schlecht gelaunt zu sein. Aber es erm\u00f6glicht, die schlechte Laune bei sich selbst und anderen das n\u00e4chste Mal mit etwas anderen Augen zu sehen.<\/p>\n

Andrea Gerk: Lob der schlechten Laune. Kein & Aber Verlag<\/a>. 304 Seiten. 24,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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