{"id":11871,"date":"2017-09-11T08:00:02","date_gmt":"2017-09-11T06:00:02","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11871"},"modified":"2017-09-08T13:47:51","modified_gmt":"2017-09-08T11:47:51","slug":"jos-saramago-eine-zeit-ohne-tod","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2017\/09\/jos-saramago-eine-zeit-ohne-tod\/","title":{"rendered":"Jos\u00e9 Saramago – Eine Zeit ohne Tod"},"content":{"rendered":"

An einem ersten Januar stellt der Tod, unangek\u00fcndigt und pl\u00f6tzlich, seine T\u00e4tigkeit ein. Die Menschen sterben nicht mehr. Niemand wird im Streit von einem erz\u00fcrnten Widersacher erschlagen, niemand l\u00e4sst sein Leben bei dem Versuch, eine vielbefahrene Stra\u00dfe zu \u00fcberqueren, selbst die Alten und Kranken siechen dahin, ohne Erl\u00f6sung. Jos\u00e9 Saramago erz\u00e4hlt in poetisch ausgreifender und feinsinnig humorvoller Art vom Ende einer gef\u00fcrchteten Selbstverst\u00e4ndlichkeit.<\/strong><\/p>\n

Wer h\u00e4tte gedacht, dass das Ende der Sterblichkeit nicht von der medizinischen Forschung, sondern von einer Unregelm\u00e4\u00dfigkeit im Arbeitsablauf des Todes selbst verursacht w\u00fcrde? In einem nicht n\u00e4her benannten Land der s\u00fcdlichen Hemisph\u00e4re jedenfalls wird nicht mehr gestorben. Der Jubel dar\u00fcber, endlich vom Unausweichlichsten befreit worden zu sein, erschallt nicht \u00fcberall in gleicher Lautst\u00e4rke. Die Kirche klagt: Wie kann es eine Auferstehung geben ohne Tod? Wie kann es ein Jenseits geben, wenn das Diesseits nie mehr verlassen wird? Mit welcher Verdammnis soll man nun den S\u00fcndern drohen? Auch die Versicherungsanstalten und Bestatter laufen Sturm. Die einen legen in ihrem Aktionismus ein k\u00fcnstliches Todesalter fest, die anderen verlegen sich hilflos auf die Bestattung von allerlei Getier, das von der unverhofften Amtsniederlegung des Todes unber\u00fchrt bleibt. Viele jedenfalls sind in Aufruhr, die Ern\u00fcchterung nach dem Freudentaumel schmeckt bitter und schal. St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck entfaltet Literaturnobelpreistr\u00e4ger Saramago die Struktur einer Gesellschaft, die auf den Tod so sehr angewiesen ist wie auf das Leben.<\/p>\n

Falls wir nicht wieder sterben, haben wir keine Zukunft mehr.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Jede Katastrophe schafft Profiteure, so auch das Nichtsterben. Eine Gruppe, die sich Maphia<\/em> nennt, organisiert illegale Transporte \u00fcber die Landesgrenzen, um Alte und Kranke dort sterben zu lassen. Sie erm\u00f6glichen, sich von famili\u00e4ren Lasten zu befreien und verdienen damit Unsummen. Es ist wie eine Flucht unter umgekehrten Vorzeichen – statt in ein besseres Leben fliehen Menschen mit ihren siechen Angeh\u00f6rigen an einen Ort, der ihnen das Sterben erm\u00f6glicht. Wer wei\u00df schon, wann und ob jemals wieder gestorben wird? Saramago fabuliert und erz\u00e4hlt mit einer solchen poetischen Kraft, dass man in seinen Worten versinken m\u00f6chte. Seine Sprache ist fein, sein Stil ausufernd und flie\u00dfend, immer in Bewegung durch zahllose Gedanken, Nebens\u00e4tze und Ansprachen der Leserschaft. Der Erz\u00e4hler tritt jederzeit deutlich als solcher zutage, beantwortet vorauseilend Fragen, kommentiert mit meisterhaft subtilem Humor die Geschehnisse, man h\u00e4ngt ihm an den Lippen. Wider Erwarten w\u00e4hrt die Unsterblichkeit, wie alles unter dieser Sonne, nicht ewig. tod gibt mittels Briefpost neue Modalit\u00e4ten des Sterbens bekannt.<\/p>\n

Last but noch least hatte auch die r\u00f6misch-katholische und apostolische Kirche allen Grund, mit sich selbst zufrieden zu sein. Von jeher \u00fcberzeugt, die Abschaffung des Todes k\u00f6nne nur ein Werk des Teufels sein und Gottes Kampf gegen die Machenschaften des B\u00f6sen sei durch nichts wirksamer zu unterst\u00fctzen als durch ausdauerndes Beten, hatte sie die Tugend der Bescheidenheit abgelegt, welche sie sonst mit betr\u00e4chtlicher M\u00fche und Opferbereitschaft pflegte, und sich vorbehaltlos selbst zum Erfolg der nationalen Gebetskampagne begl\u00fcckw\u00fcnscht, deren Ziel, das sei hier noch einmal erw\u00e4hnt, darin bestanden hatte, den lieben Gott zu bitten, so schnell wie m\u00f6glich die R\u00fcckkehr des Todes zu erwirken, um der armen Menschheit das schlimmste Grauen zu ersparen, Zitat Ende.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Zun\u00e4chst die Erz\u00e4hlung einer klassisch unerh\u00f6rten Begebenheit, entwickelt Saramagos Roman nach der R\u00fcckkehr des Sterbens Elemente einer Liebesgeschichte; er zerf\u00e4llt gleichsam in zwei Teile. Saramago l\u00e4sst tod<\/em>, eine Frau, die f\u00fcr das Ableben alles Menschlichen zust\u00e4ndig ist, nicht nur im weitesten Sinne als entmaterialisierte, omnipr\u00e4sente Protagonistin auftreten, sondern auch am Tod eines einsamen Cellisten scheitern, den sie partout nicht mit den herk\u00f6mmlichen Mitteln aus dem Leben bef\u00f6rdern kann. Eine Zeit ohne Tod <\/em>ist geheimnisvoll und mitrei\u00dfend, willens und f\u00e4hig, mit Fragen des Lebens und Todes auf leichte, weise Art umzugehen. W\u00e4re etwas gewonnen, wenn wir den Tod besiegen k\u00f6nnten? Gibt es \u00fcberhaupt etwas, das den Tod \u00bbbesiegt\u00ab – die Liebe wom\u00f6glich? Ist es einfacher, unverhofft zu sterben oder um den exakten Zeitpunkt des Sterbens zu wissen? Und wenn das m\u00f6glich w\u00e4re, w\u00fcrde man anders leben? In einer Zeit, in der die medizinische Diagnostik mit ihren M\u00f6glichkeiten immer weiter voranschreitet, ist Saramagos wundervoller Roman vielleicht auch ein Pl\u00e4doyer f\u00fcr das Nichtwissen, das Hingeben, f\u00fcr das Leben und am Ende auch f\u00fcr den Tod.<\/p>\n

Die von mir oben abgebildete Ausgabe ist nur noch gebraucht erh\u00e4ltlich; unten deshalb die bibliographischen Angaben f\u00fcr die 2015 erschienene Neuausgabe.<\/em><\/p>\n

Jos\u00e9 Saramago: Eine Zeit ohne Tod, aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis, Atlantik Verlag<\/a>, 256 Seiten, 14,99 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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