{"id":11868,"date":"2017-09-08T12:04:22","date_gmt":"2017-09-08T10:04:22","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11868"},"modified":"2017-09-08T12:04:22","modified_gmt":"2017-09-08T10:04:22","slug":"nellie-bly-zehn-tage-im-irrenhaus","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2017\/09\/nellie-bly-zehn-tage-im-irrenhaus\/","title":{"rendered":"Nellie Bly – Zehn Tage im Irrenhaus"},"content":{"rendered":"

Die Geschichte der Psychiatrie steckt voller grausiger Fehlentscheidungen und medizinischer Irrwege. Lange genug glaubte man, die psychisch Kranken allenfalls verwahren zu k\u00f6nnen, ruhiggestellt mit Medikamenten und unter erb\u00e4rmlichen Bedingungen. \u00bbBehandlung\u00ab meinte unter diesen Umst\u00e4nden eiskalte B\u00e4der, Pr\u00fcgel oder Elektroschocks. Die Reporterin Nellie Bly begibt sich 1887 f\u00fcr die Tageszeitung New York World<\/em> Undercover auf die Station einer Frauenpsychiatrie. Ihr schockierender Bericht wird grundlegende Ver\u00e4nderungen ansto\u00dfen.<\/strong><\/p>\n

Nellie Bly ist 23 Jahre alt, als sie den Auftrag erh\u00e4lt, undercover aus der Frauenpsychiatrie auf Blackwell’s Island, einer Insel im East River zwischen Manhattan und Queens, zu berichten. Die junge Frau stammt aus einfachen Verh\u00e4ltnissen in Pennsylvania. Ihre schulische Karriere war kurz und wie der Rest der Familie besuchte sie nie ein College. Bly, die eigentlich Elizabeth Jane Cochran hei\u00dft, ist keine Intellektuelle, aber eine Frau mit beneidenswert scharfem Blick und dem n\u00f6tigen Wagemut, sich ins Ungewisse zu begeben. Sie steckt voller Energie und dem unbedingten Willen zum Erfolg. Bly beschlie\u00dft, ein Heim f\u00fcr bed\u00fcrftige Frauen aufzusuchen und sich dort so \u00bbverr\u00fcckt\u00ab aufzuf\u00fchren, wie es ihr m\u00f6glich ist. Sie mimt eine junge Kubanerin mit Ged\u00e4chtnisverlust, die auf der Suche nach ihrem Gep\u00e4ck orientierungslos durch die Stadt streift. Bly verh\u00e4lt sich still, aber unberechenbar, verweigert nachts den Schlaf und ver\u00e4ngstigt mit ihrem wirren Benehmen die anderen Bewohnerinnen. Der erste Schritt Richtung Frauenpsychiatrie ist genommen und sie wird schlie\u00dflich dem Richter vorgef\u00fchrt, der \u00fcber ihren Geisteszustand zu befinden hat.<\/p>\n

Sollte ich den Eindruck gemacht haben, bei Verstand zu sein, so war ich entschlossen, dies wieder r\u00fcckg\u00e4ngig zu machen. Ich sprang also auf und rannte im B\u00fcro auf und ab, w\u00e4hrend die ver\u00e4ngstigte Mrs. Stanard mich am Arm zu packen versuchte.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

\u00dcber einige Kontrollinstanzen, die daran scheitern, Blys tadellosen Gesundheitszustand festzustellen, landet sie schlie\u00dflich auf Blackwell’s Island. Geisteskrankheit kann einigerma\u00dfen m\u00fchelos vorget\u00e4uscht werden, wenn man sich nur m\u00f6glichst zusammenhanglos und halsstarrig verh\u00e4lt. W\u00e4hrend man zun\u00e4chst noch annimmt, Bly habe Belladonna konsumiert und st\u00fcnde sicher unter Drogen – eine gut gekleidete, eloquente Frau versucht man instinktiv vom Joch der Geisteskrankheit freizusprechen, die Irren<\/em>, meint man, sehen anders aus – besteht am Ende kein Zweifel mehr an ihrer Geisteskrankheit. Auf Blackwell’s Island herrschen erb\u00e4rmliche Zust\u00e4nde und ein Personal, dem am Wohlbefinden der ihm unterstellten Patienten wenig gelegen ist. Das Essen ist ungenie\u00dfbar, Hygienevorschriften sind ein Fremdwort, es herrschen eisige Temperaturen und von therapeutischen Ans\u00e4tzen kann keide Rede sein. Die Patientinnen k\u00f6nnen sich nicht besch\u00e4ftigen, nicht \u00fcber sich selbst bestimmen und nachts kaum schlafen. Wer Widerworte gibt, muss mit k\u00f6rperlicher Gewalt und der Verlegung auf eine Station rechnen, auf der Pr\u00fcgelstrafen an der Tagesordnung sind. Ein Umfeld wie dieses, das wird auch Nellie Bly rasch klar, f\u00f6rdert Geisteskrankheit und Verwahrlosung statt im Rahmen des M\u00f6glichen Linderung zu schaffen.<\/p>\n

Ich klapperte mit den Z\u00e4hnen, hatte eine G\u00e4nsehaut am ganzen K\u00f6rper und war blau vor K\u00e4lte. Pl\u00f6tzlich wurden mir nacheinander drei Eimer Wasser – eiskaltes Wasser – \u00fcber den Kopf gegossen. Ich bekam es in meine Augen und Ohren, in meine Nase und in meinen Mund. Ich habe wohl einen Eindruck von der Erfahrung eines Ertrinkenden erhalten, als man mich endlich bebend, zitternd und nach Luft schnappend aus der Wanne zerrte.<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Die Patientinnen von Blackwell’s Island werden entrechtet und gedem\u00fctigt. Sie sind \u00bbUngl\u00fcckliche\u00ab, Hoffnungslose und niemand glaubt daran, diese Frauen jemals wieder in die Freiheit entlassen zu k\u00f6nnen. Auf Blackwell’s Island wird der Wahnsinn verwaltet, nicht behandelt. So sehr Bly sich f\u00fcr ihre Mitpatientinnen stark macht, sie erreicht innerhalb der Anstaltsmauern wenig. Ein einziger Wutausbruch kann einen, unter ung\u00fcnstigen Umst\u00e4nden, in die Psychiatrie f\u00fchren. Der Weg hinein ist allemal leichter als der Weg hinaus. Wer einmal in oberfl\u00e4chlichen Untersuchungen f\u00fcr geisteskrank befunden wird, der bleibt es auch, in den Augen des medizinischen Personals. Die eigene Gesundheit zu beweisen, ist eine nahezu unl\u00f6sbare Aufgabe. Bly aber hat als Undercover-Journalistin keine Schwierigkeiten, die Station wieder zu verlassen. Ihr Bericht st\u00f6\u00dft Untersuchungen und Ver\u00e4nderungen an, die lange \u00fcberf\u00e4llig waren. Zwar ist sie nicht die einzige, die die desastr\u00f6sen Zust\u00e4nde \u00f6ffentlich zur Sprache bringt, aber ihre ungetr\u00fcbten Erlebnisse aus erster Hand bringen Bewegung in die Diskussion. Ten Days In A Mad-House <\/em>begr\u00fcndet Blys Ruhm. In ihren Recherchen geht sie auch sp\u00e4ter immer wieder an Grenzen, begibt sich in Gefahr und ist bereit, etwas zu riskieren. F\u00fcr die Entwicklung des investigativen Journalismus ist sie eine Schl\u00fcsselfigur; durchaus nicht selbstverst\u00e4ndlich in einer Zeit, in der sich die Aufgabe von Frauen im redaktionellen Bereich noch zu h\u00e4ufig auf die Bereitstellung von Backrezepten beschr\u00e4nkt. Allein deshalb ist ihr Bericht aus der Psychiatrie ein wichtiges Zeitdokument – ungesch\u00f6nt, engagiert und voller Kampfgeist!<\/p>\n

Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus, herausgegeben, \u00fcbersetzt und mit einem Nachwort von Martin Wagner, AvivA Verlag<\/a>, 192 Seiten, 15,90 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Die Geschichte der Psychiatrie steckt voller grausiger Fehlentscheidungen und medizinischer Irrwege. Lange genug glaubte man, die psychisch Kranken allenfalls verwahren zu k\u00f6nnen, ruhiggestellt mit Medikamenten und unter erb\u00e4rmlichen Bedingungen. \u00bbBehandlung\u00ab meinte unter diesen Umst\u00e4nden eiskalte B\u00e4der, Pr\u00fcgel oder Elektroschocks. Die Reporterin Nellie Bly begibt sich 1887 f\u00fcr die Tageszeitung New York World Undercover auf die Station einer Frauenpsychiatrie. Ihr schockierender Bericht wird grundlegende Ver\u00e4nderungen ansto\u00dfen. Nellie Bly ist 23 Jahre alt, als sie den Auftrag erh\u00e4lt, undercover aus der Frauenpsychiatrie auf Blackwell’s Island, einer Insel im East River zwischen Manhattan und Queens, zu berichten. Die junge Frau stammt aus einfachen Verh\u00e4ltnissen in Pennsylvania. Ihre schulische Karriere war kurz und wie der Rest der Familie besuchte sie nie ein College. Bly, die eigentlich Elizabeth Jane Cochran hei\u00dft, ist keine Intellektuelle, aber eine Frau mit beneidenswert scharfem Blick und dem n\u00f6tigen Wagemut, sich ins Ungewisse zu begeben. Sie steckt voller Energie und dem unbedingten Willen zum Erfolg. Bly beschlie\u00dft, ein Heim f\u00fcr bed\u00fcrftige Frauen aufzusuchen und sich dort so \u00bbverr\u00fcckt\u00ab aufzuf\u00fchren, wie es ihr m\u00f6glich ist. Sie …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":11869,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,840],"tags":[2432,2431,2430],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2017\/09\/DSCN9228.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11868"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=11868"}],"version-history":[{"count":4,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11868\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":11879,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11868\/revisions\/11879"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/11869"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=11868"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=11868"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=11868"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}