{"id":11708,"date":"2017-05-23T17:53:56","date_gmt":"2017-05-23T15:53:56","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11708"},"modified":"2017-05-24T11:05:49","modified_gmt":"2017-05-24T09:05:49","slug":"julia-wolf-walter-nowak-bleibt-liegen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2017\/05\/julia-wolf-walter-nowak-bleibt-liegen\/","title":{"rendered":"Julia Wolf – Walter Nowak bleibt liegen"},"content":{"rendered":"

Die Begutachtung eines trainierten Frauenk\u00f6rpers im \u00f6ffentlichen Schwimmbad l\u00e4sst Walter Nowak unsanft mit dem Beckenrand kollidieren. Vielleicht rutscht er aber auch auf den heimischen Badezimmerfliesen aus und schl\u00e4gt sich den Kopf an. Irgendeine Ersch\u00fctterung jedenfalls l\u00e4sst in Walter Nowak, Pension\u00e4r, gut in Form, kein Kostver\u00e4chter, einiges durcheinander geraten. Julia Wolf erschafft mit ihrem zweiten Roman einen ganz eigenen Walter-Sound: verloren, unnachgiebig, vers\u00f6hnlich.<\/strong><\/p>\n

Walter Nowak wollte immer hoch hinaus, Karriere machen. Im Nachkriegsdeutschland verdient er sein Geld mit Hebeb\u00fchnen; der schmissige Firmenslogan: Wenn hoch, dann Nowak<\/em>. Walter ist das Kind einer Deutschen und eines in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten, die Liaison ist kurz. Walter wird sich in den letzten Stunden seines Lebens an die Beschimpfungen der Mitsch\u00fcler erinnern, die sie ihm, dem “Bastard”, auf der Stra\u00dfe hinterherbr\u00fcllten. Ohne Vater im hessischen Friedberg aufzuwachsen, als uneheliches Kind, war Ende der 50er Jahre kein Zuckerschlecken. Aber Walter bei\u00dft sich durch. Er organisiert seiner Mutter ein Autogramm vom King of Rock’n’Roll, der zum damaligen Zeitpunkt als US-Soldat in Friedberg stationiert ist. Elvis ist ein Fixstern in Walters Leben, mit seinem H\u00fcftschwung, der granitenen Haartolle, dem uuh-uuh-uuh. Immer wieder geistert er durch Walters Gedanken, als Vorbild, als Abbild, als Spiegelbild; zuletzt als in der Gegenwart zur Debatte steht, den Elvis-Presley-Platz umzubenennen. Ersch\u00fcttert und wie ein Relikt aus fr\u00fcherer Zeit, umrundet er in seinem Wagen das Presley-Denkmal, gefangen im Gestern, einem endlosen Kreisvekehr. Und auch im Streit mit seinem Sohn ist es Elvis Presley, in dessen Dunstkreis sich der Disput abspielt. Als er mit seinem Sohn und seiner Frau Graceland besucht, kollidieren die Welten.<\/p>\n

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Alle sollen ihren Stammbaum aufsagen, und ich: Hab keinen. Kann nicht sein, Nowak! Er zitiert mich nach vorne, vor versammelter Klasse: Jeder hat doch einen Vater! Ist dein Vater im Krieg geblieben?<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Sein Sohn will kein Unternehmer werden, nicht in Walters Fu\u00dfstapfen treten. Als kleiner Junge bereiten ihm die Hebeb\u00fchnen seines Vaters Angst, das Hoch-Hinaus und all die Ambitionen. Er wird Tierpfleger im Zoo und besch\u00e4mt damit Walter, der sich ums Verrecken keinen guten Grund daf\u00fcr vorstellen kann, t\u00e4glich knietief im Mist zu stehen. Die Beziehung der beiden ist von Beginn an unterk\u00fchlt, gest\u00f6rt und von einer nahezu herzergreifenden Hilflosigkeit Walters gepr\u00e4gt. Sein Sohn und er funken auf ganz unterschiedlichen Kan\u00e4len, sie sind sich fremd bis zum Schluss, auch wenn in Walter ein tiefes Bedauern dar\u00fcber aufkeimt, w\u00e4hrend er bewegungslos auf den Badezimmerfliesen liegt. Trotz aller Ambitionen des hart schuftenden Selfmademans, ist Walter ein einfacher, bodenst\u00e4ndiger Spie\u00dfb\u00fcrgertyp geblieben. Er hat Schwierigkeiten mit dem afrikanischen Namen seiner \u00c4rztin. Frauen gegen\u00fcber ist er unbeholfen. Er sieht in ihnen seine Mutter, insbesondere deren Pferdeschwanz, der ihn bei allen anderen Frauen unmittelbar in Aufregung versetzt. Er sieht in ihnen “wogende Busen” oder im Fall der “Frau vom Herrmann”, dass ihr nach der Amputation eine Brust fehlt, er nennt sie “Fr\u00e4ulein” oder “Fr\u00e4uleinchen”, selten beim Vornamen. Auch seine Sekret\u00e4rin von fr\u00fcher ist nur “die Fritzsche”, formlos und knochig. Die weibliche Lebenswirklichkeit ist ihm so fremd wie die seines Sohnes.<\/p>\n

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An den Baracken vorbei, wo die Baracken standen, fr\u00fcher, am Maschendrahtzaun, auf den Kreisverkehr zu, und sehe ihn schon, Tolle, Gitarre, rostroter Riese, ich drehe die Musik wieder an, lauter, klappernde Knie, you ain’t nothin’ but, mit quietschenden Reifen, immer im Kreis, zu seinen F\u00fc\u00dfen Blumen, mickrig, Gestr\u00fcpp, Willi, du, Schwein, wirst nie einen Hasen, ich lasse das Fenster herunter, du bist kein Freund, volle Lautst\u00e4rke, ich sehe zu ihm hoch, sp\u00fcre meine Stimme, ein Schwellen, und ja, ja, ich br\u00fclle, drei Worte, zum Fenster hinaus: WALTER F\u00dcR IMMER!<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Julia Wolf erz\u00e4hlt Walter Nowaks Lebensgeschichte komplett als Bewusstseinsstrom des Verletzten, des Kranken, des wahrscheinlich Sterbenden. Rekapitulation, Anklage und Vers\u00f6hnung verschmelzen in einem typischen Walter-Sound, so verletzlich, vergessen, stolz und unnachgiebig. Walter ist ein Mann, dessen Niedergang und Scheitern man nicht nur schadenfroh mit s\u00fcffisantem Grinsen verfolgt. Dank Julia Wolfs lebendiger und klischeefreier Charakterzeichnung entsteht ein vieldimensionales Bild nicht nur von Walter selbst, sondern auch von der deutschen Nachkriegsgesellschaft und ihren Anforderungen an jeden Einzelnen. Walter Nowak bleibt liegen <\/em>erz\u00e4hlt von Entfremdung zwischen Menschen, von Pr\u00e4gung und der Verweigerung, das eigene Lebenskonzept einer Pr\u00fcfung zu unterziehen. Es ist leicht, \u00fcber Walter zu urteilen und es ist leicht, Walter zu bel\u00e4cheln f\u00fcr seine Engstirnigkeit. Aber so einfach sollte man es sich nicht machen. Walter ist keine Witzfigur par excellence. Er ist plastischer. Die Bef\u00fcrchtung, die Erz\u00e4hlperspektive k\u00f6nne sich \u00fcber den l\u00e4ngeren Zeitraum der Lekt\u00fcre abnutzen, hat sich als g\u00e4nzlich unbegr\u00fcndet erwiesen. Viel eher erzeugt sie einen Sog, der tief hineinzieht in Walters Erleben und F\u00fchlen. Am Ende steht ein so humorvolles wie empathisches Psychogramm eines Mannes, der vielleicht gern wie Elvis gewesen w\u00e4re und dann doch nur Walter Nowak wurde.<\/p>\n

Julia Wolf: Walter Nowak bleibt liegen. Frankfurter Verlagsanstalt<\/a>. 200 Seiten. 21 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Die Begutachtung eines trainierten Frauenk\u00f6rpers im \u00f6ffentlichen Schwimmbad l\u00e4sst Walter Nowak unsanft mit dem Beckenrand kollidieren. Vielleicht rutscht er aber auch auf den heimischen Badezimmerfliesen aus und schl\u00e4gt sich den Kopf an. Irgendeine Ersch\u00fctterung jedenfalls l\u00e4sst in Walter Nowak, Pension\u00e4r, gut in Form, kein Kostver\u00e4chter, einiges durcheinander geraten. Julia Wolf erschafft mit ihrem zweiten Roman einen ganz eigenen Walter-Sound: verloren, unnachgiebig, vers\u00f6hnlich. Walter Nowak wollte immer hoch hinaus, Karriere machen. Im Nachkriegsdeutschland verdient er sein Geld mit Hebeb\u00fchnen; der schmissige Firmenslogan: Wenn hoch, dann Nowak. Walter ist das Kind einer Deutschen und eines in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten, die Liaison ist kurz. Walter wird sich in den letzten Stunden seines Lebens an die Beschimpfungen der Mitsch\u00fcler erinnern, die sie ihm, dem “Bastard”, auf der Stra\u00dfe hinterherbr\u00fcllten. Ohne Vater im hessischen Friedberg aufzuwachsen, als uneheliches Kind, war Ende der 50er Jahre kein Zuckerschlecken. Aber Walter bei\u00dft sich durch. Er organisiert seiner Mutter ein Autogramm vom King of Rock’n’Roll, der zum damaligen Zeitpunkt als US-Soldat in Friedberg stationiert ist. Elvis ist ein Fixstern in Walters Leben, mit …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":11709,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[1920,1919,2405],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2017\/05\/DSCN9176.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11708"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=11708"}],"version-history":[{"count":6,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11708\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":11733,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11708\/revisions\/11733"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/11709"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=11708"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=11708"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=11708"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}