{"id":11385,"date":"2017-03-09T08:00:11","date_gmt":"2017-03-09T06:00:11","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11385"},"modified":"2017-03-07T17:14:10","modified_gmt":"2017-03-07T15:14:10","slug":"lukas-baerfuss-hagard","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2017\/03\/lukas-baerfuss-hagard\/","title":{"rendered":"Lukas B\u00e4rfuss – Hagard"},"content":{"rendered":"

Was ist eigentlich Hagard<\/em>? Im Franz\u00f6sischen jedenfalls bedeutet es “verst\u00f6rt” und man kann mit Fug und Recht behaupten, sich nach der Lekt\u00fcre von B\u00e4rfuss’ neuem Roman in einer mindestens artverwandten Stimmung vorzufinden. Nominiert f\u00fcr den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 erz\u00e4hlt Lukas B\u00e4rfuss die Geschichte eines Ausbruchs, in dem Realit\u00e4t und Obsession miteinander verschwimmen.<\/strong><\/p>\n

Ein Mann namens Philip entdeckt nach einem geplatzten Gesch\u00e4fstermin im Gewimmel der Fu\u00dfg\u00e4ngerzone die “pflaumenfarbenen Ballerinas” einer Frau. Einer spontanen Eingebung folgend beginnt er, sich an ihre Fersen zu heften, ohne genau zu wissen, was ihn eigentlich dazu treibt. Er bewundert ihre zierliche und leichtf\u00fc\u00dfige Gestalt und ihren Duft, den er sich mehr denkt als er ihn aus der sicheren Entfernung, die er beibeh\u00e4lt, riechen k\u00f6nnte. Mehr und mehr entwickelt sich eine Art von Beziehung und Dringlichkeit, die in der Wirklichkeit durch nichts gerechtfertigt w\u00e4re. Obwohl Philip der Frau bis zu dem Haus folgt, in dem sich mutma\u00dflich ihre Wohnung befindet, sieht er kein einziges Mal ihr Gesicht. Sie bleibt ein Phantom f\u00fcr ihn, eine leere Fl\u00e4che, auf die er alles projezieren kann. Er l\u00e4sst Verabredungen verstreichen und Stunden vergehen; seine Lebensaufgabe scheint pl\u00f6tzlich in der Verfolgung dieser Fremden zu liegen, die augenblicklich ihren Reiz verl\u00f6re, wenn sie Kontur und Gestalt bek\u00e4me. Eine einzige impulsive Entscheidung macht aus dem einigerma\u00dfen erfolgreichen Gesch\u00e4ftsmann einen Willenlosen, ein Opfer seiner Fantasie und seines Wahns. Damit bildet er den personifizierten Counterpart zum selbstoptimierten und kontrollierten Menschen der Gegenwart, f\u00fcr den es kaum ein gr\u00f6\u00dferes Gl\u00fcck gibt als das Halten des Ma\u00dfes.<\/p>\n

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Jede Epoche besitzt ein Werkzeug, auf das sie fundamental angewiesen ist. Die industrielle Revolution ist gleich der Dampfmaschine, die Aufkl\u00e4rung brauchte den Setzkasten, und auch meine Zeit hing an einem Ger\u00e4t, allerdings war es nicht das kluge Telefon, wie die meisten glaubten, es war das Netzteil mit einem Ladekabel (…)<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Lukas B\u00e4rfuss hat einen Roman konstruiert, der weit \u00fcber die Geschichte eines Stalkers hinausgeht. Er funktioniert auf ganz verschiedenen Ebenen und beginnt bereits mit der gekonnten Irref\u00fchrung des Lesers. Obwohl von einem Philip die Rede ist, wird schon mit den ersten S\u00e4tzen deutlich, dass nicht etwa Philip erz\u00e4hlt, sondern ein namenloser Dritter, der beinahe an der Erz\u00e4hlung zugrunde geht. Er will “Philips Geschichte verstehen”, “das Geheimnis l\u00fcften”, seine Beziehung zu ihm bleibt ungekl\u00e4rt. Von Anfang handelt die Geschichte nicht einfach von einem Verfolger, sondern gleichzeitig auch von einem Verfolgten. Offensichtlich gibt es einen Dritten, der seinerseits Philip und seine Entscheidungen nachvollzieht und die Konstruktion des Romans dr\u00e4ngt zusehends auch den Leser in die Rolle des Verfolgers. Dieser geschickt eingezogene doppelte Boden erweitert die Dimension der Geschichte, macht den Rezipienten zum Kollaborateur, der sich bei n\u00e4herer Betrachtung nicht mehr schuldlos vom Verfolger abwenden kann.<\/p>\n

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Die Sonne ist untergegangen. Wind setzt ein und wirbelt Staub auf und Dreck. Ein Wind, kalt wie das Weltall, als st\u00fcnde im Himmel ein Fenster offen.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Philips Obsession wird ma\u00dfgeblich von der Akkuleistung seines Handys bestimmt. Er scheint am Smartphone – oder besser: an seiner Verf\u00fcgbarkeit – zu h\u00e4ngen wie ein Kranker an lebenserhaltenden Maschinen. Was er sieht und wie er es sieht, ist davon abh\u00e4ngig, ob sein Telefon intakt ist; es ist seine schw\u00e4chelnde Verbindung zur Welt. Mit dem Verstummen des Smartphones wird die Wahrnehmung immer konfuser, Philip verliert seine Wirklichkeit. Es ist nicht schwierig, darin nicht nur eine Technikkritik zu erkennen, sondern auch eine zeitkritische Diagnose insgesamt. Abh\u00e4ngig von einem kleinen Ger\u00e4t, das die eigene Wirklichkeit definiert und formt, setzt umgehend Orientierungslosigkeit ein, wenn der Einzelne auf sich selbst zur\u00fcckgeworfen ist. Auch im Netz werden wir zu “Followern”, vernetzen wir uns mit Menschen, die wir rudiment\u00e4r kennen; die Leerstellen f\u00fcllt unsere Vorstellung. Lukas B\u00e4rfuss Roman ist geschickt komponiert, sprachlich ungemein pr\u00e4zise und tappt dankenswerter Weise nicht in die Falle eines zu platten Technologieskeptizismus. Viel eher regt er zum Nachdenken an: \u00fcber eigene Rollen und Gewohnheiten und \u00fcber die Wirklichkeit oder das, was wir daf\u00fcr halten. Ein B\u00e4rfuss, auf den es sich zu warten gelohnt hat!<\/p>\n

Lukas B\u00e4rfuss: Hagard. Wallstein Verlag<\/a>. 174 Seiten. 19,90 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Was ist eigentlich Hagard? Im Franz\u00f6sischen jedenfalls bedeutet es “verst\u00f6rt” und man kann mit Fug und Recht behaupten, sich nach der Lekt\u00fcre von B\u00e4rfuss’ neuem Roman in einer mindestens artverwandten Stimmung vorzufinden. Nominiert f\u00fcr den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 erz\u00e4hlt Lukas B\u00e4rfuss die Geschichte eines Ausbruchs, in dem Realit\u00e4t und Obsession miteinander verschwimmen. Ein Mann namens Philip entdeckt nach einem geplatzten Gesch\u00e4fstermin im Gewimmel der Fu\u00dfg\u00e4ngerzone die “pflaumenfarbenen Ballerinas” einer Frau. Einer spontanen Eingebung folgend beginnt er, sich an ihre Fersen zu heften, ohne genau zu wissen, was ihn eigentlich dazu treibt. Er bewundert ihre zierliche und leichtf\u00fc\u00dfige Gestalt und ihren Duft, den er sich mehr denkt als er ihn aus der sicheren Entfernung, die er beibeh\u00e4lt, riechen k\u00f6nnte. Mehr und mehr entwickelt sich eine Art von Beziehung und Dringlichkeit, die in der Wirklichkeit durch nichts gerechtfertigt w\u00e4re. Obwohl Philip der Frau bis zu dem Haus folgt, in dem sich mutma\u00dflich ihre Wohnung befindet, sieht er kein einziges Mal ihr Gesicht. Sie bleibt ein Phantom f\u00fcr ihn, eine leere Fl\u00e4che, auf die er alles …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":11386,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[2377,1311,1605],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2017\/03\/DSCN8923.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11385"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=11385"}],"version-history":[{"count":4,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11385\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":11392,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11385\/revisions\/11392"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/11386"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=11385"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=11385"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=11385"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}