{"id":11057,"date":"2016-11-15T13:30:58","date_gmt":"2016-11-15T11:30:58","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11057"},"modified":"2016-11-15T14:24:28","modified_gmt":"2016-11-15T12:24:28","slug":"miriam-stein-das-fuerchten-verlernen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2016\/11\/miriam-stein-das-fuerchten-verlernen\/","title":{"rendered":"Miriam Stein – Das F\u00fcrchten verlernen"},"content":{"rendered":"

Miriam Stein w\u00e4chst als Adoptivkind aus S\u00fcdkorea mit mehreren Geschwistern in einer deutschen Familie auf. Ihre Mutter leidet unter Angst und Panikattacken, die den Bewegungsradius aller auf ein Minimum beschr\u00e4nken. Der Vater ist viel unterwegs, die Kinder \u00fcbernehmen unterdessen die Elternrolle. Alles, was die Mutter \u00fcberfordern und Attacken ausl\u00f6sen k\u00f6nnte, wird vermieden. Das Leben schrumpft zusammen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Angst und Normalit\u00e4t. Miriam rebelliert und muss schlie\u00dflich feststellen, dass auch in ihr die Angst ihrer Mutter Wurzeln geschlagen hat.<\/strong><\/p>\n

Etwa 14 % der Europ\u00e4er leiden unter Angstst\u00f6rungen. Darunter fallen nicht nur generalisierte Angst- und Panikst\u00f6rungen ohne einen konkreten Angstausl\u00f6ser, sondern auch spezifische Phobien, die sich auf spezielle Reize (Spinnen, H\u00f6he, Flugreisen, Enge etc.) beziehen. Angstst\u00f6rungen sind nicht selten, sondern neben Depressionen vermutlich eine der am h\u00e4ufigsten auftretenden psychischen Krankheiten. Miriam Steins Mutter leidet unter Schwindelanf\u00e4llen und Panikattacken, ohne dass es konkrete Ausl\u00f6ser gibt. Manchmal l\u00f6st Zur\u00fcckweisung das Zittern und Schwanken aus, manchmal auch allgemeiner Stress, die Unvertrautheit fremder Situationen oder Menschen, ein anderes Mal das Gef\u00fchl, eine Umgebung im Falle aufsteigender Angst nicht jederzeit verlassen zu k\u00f6nnen. Schon fr\u00fch sieht sich Miriam Stein in der Pflicht, ihre Mutter zu unterst\u00fctzen, auch wenn ihr als Kind jedes Verst\u00e4ndnis f\u00fcr das Empfinden w\u00e4hrend einer Panikattacke fehlt. Sie versucht, es selbst herbeizuf\u00fchren, indem sie sich bewusst Risiken aussetzt – erfolglos. Auch eine Therapie bringt in den 80er-Jahren nicht den gew\u00fcnschten Erfolg, die Medikation mit angstl\u00f6senden Psychopharmaka lehnt die Mutter ab, aus Angst vor Abh\u00e4ngigkeit. Miriam beschlie\u00dft, nicht wie ihre Mutter zu werden, der Angst keinen Meter Raum in ihrem Leben zu lassen, sich niemals so verletzlich und ohnm\u00e4chtig zu f\u00fchlen wie ihre Mutter angesichts ihrer alles verschlingenden Angst. Sie geht ins Ausland, arbeitet dort u.a. als Modefotografin, schl\u00e4gt sich allein auf unertr\u00e4glich hohen Schuhen und in unermesslich modischen Kleidern in der Fremde durch. Miriams Begleiterin ist die Bulimie, mit der sie ihre \u00c4ngste kompensiert. Nach au\u00dfen ist sie tough, l\u00e4sst sich durch nichts verunsichern und verspottet die Luxusprobleme ihrer Altersgenossen. Als sie mit Anfang zwanzig im Geb\u00fcsch versucht, sich die Reste eines durch Magens\u00e4ure zerst\u00f6rten Zahns selbst zu ziehen, erkennt sie langsam, dass Furchtlosigkeit ein zweifelhaftes Lebenskonzept ist.<\/p>\n

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So wurde die Krankheit \u00fcber mehrere Jahre nicht behandelt, sondern integriert. Meine Mutter – die Kranke. Wir Kinder – die Kompensierenden. Unsere Rollen waren festgelegt, und ich erinnere mich nicht daran, jemals gedacht zu haben: Jetzt muss aber mal dringend was passieren! Jemand muss uns helfen!<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Der Untertitel des als Erfahrungsbericht konzipierten Buches lautet: “7 Mutproben, die alles ver\u00e4ndern”. Dabei handelt es sich, grob gesprochen, entweder um mehr oder weniger unvermeidliche Erfahrungen des Lebens – z.b. die Pubert\u00e4t, den Verlust der eigenen Eltern, die Geburt eines eigenen Kindes, die Anerkennung elterlicher Ratschl\u00e4ge – oder um Entschl\u00fcsse, die so sicher nicht jedem m\u00f6glich sind, z.B. ein langer Auslandsaufenthalt. Es ist der individuelle Weg Miriam Steins zu sich selbst und dabei weniger eine Betrachtung pathologischer \u00c4ngste. Nachdem die Autorin in der Berliner U-Bahn eine Panikattacke erleidet, weil sie einen Sitznachbarn f\u00fcr einen potentiellen Terroristen h\u00e4lt, beginnt sie, sich mit ihren eigenen \u00c4ngsten nach der Geburt ihres Kindes detaillierter auseinanderzusetzen. Diese \u00c4ngste sind kaum im klassischen Sinne krankhaft. \u00c4ngste vor einem Terroranschlag, vor Arbeitslosigkeit, vor einer schlechten und unsicheren Zukunft f\u00fcr das eigene Kind wurzeln in realen Bedrohungen. Die m\u00f6gen im Einzelfall \u00fcbersch\u00e4tzt werden, sind insgesamt aber nicht mit einer Angst gleichzusetzen, die jeder Grundlage entbehrt. Der Phobiker ist sich der Widersinnigkeit seiner Angst bewusst, ihm ist klar, dass seine Bewertung einer Situation nicht die reale Bedrohungslage spiegelt. Miriam Stein scheinen – jedenfalls auf der Basis des im Buch Beschriebenen – sehr nachvollziehbare \u00c4ngste zu plagen. Oder anders ausgedr\u00fcckt: ihre \u00c4ngste sind die \u00c4ngste vieler, weshalb sie den pers\u00f6nlichen Bericht auch immer wieder mit Reflexionen zur gesellschaftlichen und politischen Lage spickt. Angst ist ein gro\u00dfes Thema dieser Tage, nicht nur in Therapiepraxen. Allerdings unterscheiden sich diffuse \u00c4ngste vor beruflichem Abstieg, Armut, einer unsicheren Zukunft und \u00dcberfremdung dann eben doch von einer diagnostizierbaren Angstst\u00f6rung. Der Bericht vermischt beizeiten beides miteinander, ohne klare Abgrenzungen vorzunehmen. So besucht sie z.B. Raphael Rose, der zuk\u00fcnftige Astronauten der NASA von ihren \u00c4ngsten befreit.<\/p>\n

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Ich war besessen von der Aufl\u00f6sung der Angst-Strukturen meiner Eltern, es nahm mich so sehr ein, dass diese Mission die Essst\u00f6rungen \u00fcberlagerte. Ich war so besch\u00e4ftigt, mich als Tough Cookie neu zu erfinden, dass ich selbst f\u00fcr meine Bulimie keine Zeit mehr hatte.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Die Angstst\u00f6ung der Mutter spielt zu Beginn und am Ende des Buches eine gr\u00f6\u00dfere Rolle. Im Zentrum steht weniger das Empfinden der Betroffenen oder ihre m\u00f6gliche Behandlung (im Falle der Mutter w\u00e4chst sich die Angst im Laufe der Zeit aus, um im Alter zur\u00fcckzukehren), sondern das Erleben der Angeh\u00f6rigen. Wird Angst oder mindestens die Neigung dazu vererbt? Welche Chancen und M\u00f6glichkeiten hat man, dieser Pr\u00e4gung zu entgehen oder ihr etwas entgegenzusetzen? Wenig \u00fcberraschend gilt noch immer die Verhaltens- und Expositionstherapie als erste Wahl, wenn es um die Bew\u00e4ltigung von \u00c4ngsten geht. Angeh\u00f6rigen aber, insbesondere Kindern der angstgest\u00f6rten Patienten, solle, so Miriam Stein, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wie eine Angeh\u00f6rige sich ihr Leben trotz schwieriger Startbedingungen zur\u00fcckerobert hat, erz\u00e4hlt sie in Das F\u00fcrchten verlernen<\/em>. Das liest sich zwar ermutigend und best\u00e4rkend, f\u00fcgt dem Themenkomplex “Angstst\u00f6rungen” aber wenig Neues hinzu. Als Betroffene einer Angstst\u00f6rung<\/strong> habe ich einen offenen Erfahrungsbericht gelesen, dem es irgendwie gelingt, einen allgemeineren Zugang zum Thema zu suggerieren als ihm letztlich m\u00f6glich ist (z.B. ist von dem Medikament Haloperiodol<\/em> die Rede, das eigentlich Haloperidol<\/em> hei\u00dft). Fazit: f\u00fcr Betroffene ist der Bericht durch die Vermischung von Angstformen und die Konzentration auf die Perspektive einer Angeh\u00f6rigen vermutlich weniger spannend; f\u00fcr T\u00f6chter, S\u00f6hne oder PartnerInnen von Betroffenen aber wahrscheinlich eine ergiebigere Lekt\u00fcre.<\/p>\n

Miriam Stein: Das F\u00fcrchten verlernen. Suhrkamp Verlag<\/a>. 270 Seiten. 14,95 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Miriam Stein w\u00e4chst als Adoptivkind aus S\u00fcdkorea mit mehreren Geschwistern in einer deutschen Familie auf. Ihre Mutter leidet unter Angst und Panikattacken, die den Bewegungsradius aller auf ein Minimum beschr\u00e4nken. Der Vater ist viel unterwegs, die Kinder \u00fcbernehmen unterdessen die Elternrolle. Alles, was die Mutter \u00fcberfordern und Attacken ausl\u00f6sen k\u00f6nnte, wird vermieden. Das Leben schrumpft zusammen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Angst und Normalit\u00e4t. Miriam rebelliert und muss schlie\u00dflich feststellen, dass auch in ihr die Angst ihrer Mutter Wurzeln geschlagen hat. Etwa 14 % der Europ\u00e4er leiden unter Angstst\u00f6rungen. Darunter fallen nicht nur generalisierte Angst- und Panikst\u00f6rungen ohne einen konkreten Angstausl\u00f6ser, sondern auch spezifische Phobien, die sich auf spezielle Reize (Spinnen, H\u00f6he, Flugreisen, Enge etc.) beziehen. Angstst\u00f6rungen sind nicht selten, sondern neben Depressionen vermutlich eine der am h\u00e4ufigsten auftretenden psychischen Krankheiten. Miriam Steins Mutter leidet unter Schwindelanf\u00e4llen und Panikattacken, ohne dass es konkrete Ausl\u00f6ser gibt. Manchmal l\u00f6st Zur\u00fcckweisung das Zittern und Schwanken aus, manchmal auch allgemeiner Stress, die Unvertrautheit fremder Situationen oder Menschen, ein anderes Mal das Gef\u00fchl, eine Umgebung im Falle aufsteigender Angst …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":11065,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,840],"tags":[2321,2320,1769],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2016\/11\/DSCN88312.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11057"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=11057"}],"version-history":[{"count":8,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11057\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":11066,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11057\/revisions\/11066"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/11065"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=11057"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=11057"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=11057"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}