{"id":11016,"date":"2016-10-30T17:38:30","date_gmt":"2016-10-30T15:38:30","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=11016"},"modified":"2016-10-30T20:50:21","modified_gmt":"2016-10-30T18:50:21","slug":"carolin-emcke-gegen-den-hass","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2016\/10\/carolin-emcke-gegen-den-hass\/","title":{"rendered":"Carolin Emcke – Gegen den Hass"},"content":{"rendered":"

Wer bislang glaubte, mit Carolin Emcke sei in diesem Jahr eine Friedenspreistr\u00e4gerin des deutschen Buchhandels gek\u00fcrt worden, die allseits geachtet und f\u00fcr ihre Kolumnen ebenso wie f\u00fcr ihre Essays und Berichte respektiert und angesehen ist, der durfte sp\u00e4testens nach ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche gegenteilige Beobachtungen machen. Emcke wird als mittelm\u00e4\u00dfig verunglimpft, als banal, als kleinster gemeinsamer Nenner gutsituierter Moralisten oder schlicht: als Gutmensch. Je nachdem, wen man fragt. Inhaltliche Kritik an Emckes Analysen hingegen ist Mangelware.<\/strong><\/p>\n

Der Jurist Thomas Fischer wettert in seiner Kolumne: “Wir m\u00f6chten unbedingt ebenfalls den Friedenspreis des deutschen Kuscheltuchhandels. Und spenden ihn dann an ein Waisenkind auf Haiti. Wir melden uns hiermit an auf der Warteliste der zehn verfolgtesten lesbischen Friedensk\u00e4mpferinnen ohne eigene Meinung.<\/span>” Auf Facebook wird der polemische, unsachliche und zynische Artikel bejubelt. Bei Emcke handle es sich um “das gute Gewissen der deutschen Mittelm\u00e4\u00dfigkeit”. Und etwas suggestiv wird gefragt: “Ist sie tats\u00e4chlich eine derart banale, selbstgerecht jammernde, postkoloniale Weltenbemutterungsschwurblerin?” Ein Kommentator schreibt: “In meiner Welt muss niemand k\u00e4mpfen, der sich selbst akzeptiert.” Und vielleicht liegt bereits dort eines der Probleme dieser schwachbr\u00fcstigen Emcke-Kritik, die statt sich inhaltlich auszubuchstabieren, an der Oberfl\u00e4che kratzt und den Rebellen markiert. Vielleicht leben einige Kritiker tats\u00e4chlich, ohne damit pauschale Aussagen \u00fcber alle von ihnen zu treffen, in einer Welt, der das von Emcke Geschilderte fremd ist. Haupts\u00e4chlich, weil sie nicht in die unangenehme Situation geraten, einer Minderheit anzugeh\u00f6ren, die um ihre Rechte und die ihnen gew\u00e4hrte Akzeptanz noch immer k\u00e4mpfen muss. Dabei enth\u00fcllt ja der Zusatz “in MEINER Welt” bereits, dass es andere Welten des Erlebens geben k\u00f6nnte, dass die eigene Wahrnehmung keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit hat. Diese Marotte allerdings, das selbst Empfundene und Erlebte als objektive Tatsachen zu bewerten, grassiert ja dieser Tage nicht nur im Umfeld von unreflektierten Emcke-Kritikern. Dabei t\u00e4te uns allen der gelegentliche Blick \u00fcber den Tellerrand gut, der Schritt aus der Komfortzone, in der all diese vielbeschworenen Ungerechtigkeiten nicht sichtbar sind. Es wusste aber schon der, der den Kopf in den Sand steckt, dass unsichtbar nicht inexistent bedeutet.<\/p>\n

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Nun, ich halte es f\u00fcr keinen zivilisatorischen Zugewinn, wenn ungebremst gebr\u00fcllt, beleidigt und verletzt werden darf. Ich halte es f\u00fcr keinen Fortschritt, wenn jede innere Sch\u00e4bigkeit nach au\u00dfen gekehrt werden darf, weil angeblich neuerdings dieser Exhibitionismus der Ressentiments von \u00f6ffentlicher oder gar politischer Relevanz sein soll.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Mit Gegen den Hass <\/em>versucht Carolin Emcke, Mechanismen des strukturellen Hasses nachzuvollziehen. Hass entsteht nicht einfach so, er bedient sich bereits bestehender Narrative und Strukturen. Die existieren nicht seit jeher, sondern sind gemacht und werden gepflegt. F\u00fcr die derzeit ausgesprochen polarisierte politische Lage war bereits vor der Fl\u00fcchtlingskrise des Sommers 2015 eine Infrastruktur vorhanden, die bis in die fr\u00fchen 90er zur\u00fcckreicht. Emcke pl\u00e4diert f\u00fcr ein Hinsehen, das sich nicht bereits an der Oberfl\u00e4che in Form von simplen Kategorisierungen ersch\u00f6pft, sondern das wahrlich differenziert. Ein Hinsehen, das eine Auseinandersetzung mit Behauptungen und Thesen verlangt, nicht blo\u00df eines, das sich unter Zuhilfenahme des ber\u00fchmten Bauchgef\u00fchls in Rekordgeschwindigkeit eine Meinung zusammendrechselt, gegen die alle nachweisbaren Fakten machtlos sind. Es w\u00e4re sch\u00f6n, wenn wir damit aufh\u00f6ren k\u00f6nnten, ad hominem zu diskutieren, sondern uns inhaltlich mit dem besch\u00e4ftigen w\u00fcrden, wovon die Rede ist. Es w\u00e4re sch\u00f6n, wenn wir dort schweigen k\u00f6nnten, wo Wissen und Erfahrung uns nur schwammige Urteile erlauben – so lange jedenfalls, bis dieser Mangel beseitigt ist.<\/p>\n

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Die Sorge erlebt zur Zeit eine erstaunliche Aufwertung. In der Sorge, so die rhetorische Suggestion, artikuliere sich ein berechtigtes Unbehagen, ein Affekt, der politisch ernstgenommen und keinesfalls kritisiert werden sollte. Als seien ungefilterte Gef\u00fchle per se berechtigt. Als k\u00e4me unreflektierten Gef\u00fchlen eine ganz eigene Legitimit\u00e4t zu.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Die L\u00f6sung, so Emcke, k\u00f6nne jedenfalls nicht sein, Hass mit Hass zu beantworten, Ressentiments mit Ressentiments. Das tr\u00e4gt allenfalls zur Versch\u00e4rfung und Verh\u00e4rtung der Situation bei, nicht zu ihrer Entspannung. Demzufolge ist es wohl wenig zielf\u00fchrend, jeden Kritiker aktueller Politik wahlweise der AfD, Pegida oder der verschw\u00f6rungstheoretischen Allianz zuzurechnen; blo\u00df, was rassistisch ist, muss auch rassistisch genannt werden. Die, die Emcke f\u00fcr banal halten und ihre Forderungen f\u00fcr selbstverst\u00e4ndlich, scheinen zu vergessen, f\u00fcr wie viele Menschen diese “Selbstverst\u00e4ndlichkeiten” im Umgang mit anderen schon l\u00e4ngst nicht mehr gelten. In einer Facebook-Kommentarspalte wird auf g\u00f6nnerhafte Art Emckes Anmerkung in Frage gestellt, jeder Schwarze sei einzigartig. Man m\u00fcsse da, so der Kommentator, doch blo\u00df einmal die Opfer der K\u00f6lner Silvesternacht befragen (in diesen Zusammenh\u00e4ngen ein Totschlagargument). Wie selbstverst\u00e4ndlich ist angesichts solcher Einw\u00fcrfe die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung? Ja, Emcke denkt von den Minderheiten her, die Diskriminierung erfahren, nicht von der Mehrheit, die diese Diskriminierungen entweder als Hysterie abtut oder gar nicht erst wahrnimmt. Aber was soll daran verwerflich sein? Kritikw\u00fcrdig? Verachtenswert? Ist es auch hier wieder die Angst vieler, dass jemand in ihr Leben eingreifen und ihre Freiheiten zugunsten der wenigen beschneiden will? Vielleicht. Vielleicht liegt dem die einfache Rechnung zugrunde: wo der eine mehr Rechte bekommt, m\u00fcssen sie einem anderem genommen werden. Dumm nur, dass davon nirgendwo bei Carolin Emcke die Rede ist.<\/p>\n

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Wirklich im Plural zu existieren bedeutet wechselseitigen Respekt vor der Individualit\u00e4t und Einzigartigkeit aller. Ich muss nicht genauso leben oder glauben wollen wie alle anderen. Ich muss die \u00dcberzeugungen und Praktiken anderer nicht teilen. Sie m\u00fcssen mir weder verst\u00e4ndlich noch sympathisch sein. Auch darin besteht die enorme Freiheit einer wirklich offenen, liberalen Gesellschaft: sich nicht wechselseitig m\u00f6gen zu m\u00fcssen, aber lassen zu k\u00f6nnen. Dazu geh\u00f6ren ausdr\u00fccklich auch jene religi\u00f6sen Vorstellungen, die manchem vielleicht irrational und unverst\u00e4ndlich erscheinen.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Das impliziert ausdr\u00fccklich auch jene, die von allt\u00e4glichen Diskriminierungen wie sie Behinderte, Homo- und Transsexuelle oder Menschen spezieller Herkunft oder religi\u00f6ser \u00dcberzeugung erleben, unber\u00fchrt bleiben. Sie m\u00fcssen das nicht verst\u00e4ndlich finden oder sympathisch, blo\u00df das Aufbegehren gegen diese Diskriminierung nicht als ungerechtfertigt abwerten. Je weniger homogen eine Gesellschaft ist, desto freier ist sie in ihren individuellen Lebensentw\u00fcrfen und -formen. Und ist es nicht die Freiheit unserer westlichen Welt, die so viele gern gegen die Bedrohung von au\u00dfen sch\u00fctzen wollen? Die Bedrohung existiert auch innergesellschaftlich durch eine verrohte Debattenkultur und einen Mangel an Differenzierung und Empathie. Auch das beschreibt Emcke deutlich, wenn sie den Vorfall in Clausnitz Anfang dieses Jahres oder den Mord an Eric Garner auseinandernimmt. Es ist nicht neu, aber aufs Neue virulent: der Hassende verschmilzt einzelne Pers\u00f6nlichkeiten zu einem Kollektiv, in dem individuelle Unterschiede vollkommen negiert werden. Jeder Fl\u00fcchtling, jeder Schwarze steht nur noch exemplarisch f\u00fcr das Kollektiv, l\u00e4ngst schon nicht mehr f\u00fcr sich selbst. Und im Fall von Clausnitz merkt sie an:<\/p>\n

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Die Gefl\u00fcchteten wurden von denen, die sie angeblich f\u00fcrchten, also nicht gemieden, die Gefl\u00fcchteten l\u00f6sten nicht Abscheu aus oder Ekel, sondern im Gegenteil: Sie wurden gesucht und gestellt. W\u00e4ren Angst oder Sorge die entscheidenden Motive f\u00fcr die Protestierenden (wie gern behauptet wird), sie suchten nicht deren N\u00e4he. Wer angsterf\u00fcllt ist, m\u00f6chte zwischen sich und die Gefahr eine m\u00f6glichst gro\u00dfe Entfernung bringen. Der Hass dagegen kann sein Objekt nicht einfach umgehen oder auf Distanz halten, er braucht seinen Gegenstand in greifbarer N\u00e4he, um ihn “vernichten” zu k\u00f6nnen.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Ist Gegen den Hass<\/em> nun banal? Ohne gro\u00dfen Anspruch? Klar ist: Emcke erfindet weder in ihrer Rede noch in ihrem Buch das Rad neu. Wer das erwartet hat, der wird entt\u00e4uscht. Carolin Emcke ist nicht unbequem. Das macht sie allerdings nicht automatisch trivial. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird schlie\u00dflich nicht f\u00fcr intellektuelles Rowdytum verliehen, nicht f\u00fcr spitze Ellbogen in aufgeheizten Debatten, sondern er geht an eine Pers\u00f6nlichkeit, “die in hervorragendem Ma\u00dfe vornehmlich durch ihre T\u00e4tigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat<\/em>.” Emcke sagt nichts, was der aufmerksame Leser oder die aufmerksame Leserin nicht schon zuvor irgendwo aufgeschnappt hat. Es gibt keinen krassen “Aha”-Effekt. Manches im Buch wiederholt sich, wirkt beschw\u00f6rerisch. Nichtsdestotrotz enth\u00e4lt es wichtige Beobachtungen in einer Sprache, die nicht nur f\u00fcr die zug\u00e4nglich ist, die ohnehin bereits alles wissen. Und selbst wenn wir all das schon tausendmal geh\u00f6rt h\u00e4tten. In einer Zeit, in der im Netz t\u00e4glich beleidigt, verh\u00f6hnt und zum “Sterbengehen” aufgefordert wird, in der auf offener Stra\u00dfe rassistische Parolen gebr\u00fcllt und Gefl\u00fcchtete t\u00e4tlich angegriffen werden, kann man das Selbstverst\u00e4ndliche vielleicht nicht oft genug sagen. Laut und vernehmlich, wie Carolin Emcke es seit Jahren tut. Wem das nicht reicht, dem sei es unbenommen, sich selbst zu engagieren.<\/p>\n

Carolin Emcke: Gegen den Hass. Fischer Verlag<\/a>. 240 Seiten. 20 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Wer bislang glaubte, mit Carolin Emcke sei in diesem Jahr eine Friedenspreistr\u00e4gerin des deutschen Buchhandels gek\u00fcrt worden, die allseits geachtet und f\u00fcr ihre Kolumnen ebenso wie f\u00fcr ihre Essays und Berichte respektiert und angesehen ist, der durfte sp\u00e4testens nach ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche gegenteilige Beobachtungen machen. Emcke wird als mittelm\u00e4\u00dfig verunglimpft, als banal, als kleinster gemeinsamer Nenner gutsituierter Moralisten oder schlicht: als Gutmensch. Je nachdem, wen man fragt. Inhaltliche Kritik an Emckes Analysen hingegen ist Mangelware. Der Jurist Thomas Fischer wettert in seiner Kolumne: “Wir m\u00f6chten unbedingt ebenfalls den Friedenspreis des deutschen Kuscheltuchhandels. Und spenden ihn dann an ein Waisenkind auf Haiti. Wir melden uns hiermit an auf der Warteliste der zehn verfolgtesten lesbischen Friedensk\u00e4mpferinnen ohne eigene Meinung.” Auf Facebook wird der polemische, unsachliche und zynische Artikel bejubelt. Bei Emcke handle es sich um “das gute Gewissen der deutschen Mittelm\u00e4\u00dfigkeit”. Und etwas suggestiv wird gefragt: “Ist sie tats\u00e4chlich eine derart banale, selbstgerecht jammernde, postkoloniale Weltenbemutterungsschwurblerin?” Ein Kommentator schreibt: “In meiner Welt muss niemand k\u00e4mpfen, der sich selbst akzeptiert.” Und vielleicht liegt bereits dort …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":11017,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,840],"tags":[2251,1090,2315],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2016\/10\/DSCN8820.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11016"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=11016"}],"version-history":[{"count":9,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11016\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":11026,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/11016\/revisions\/11026"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/11017"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=11016"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=11016"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=11016"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}