{"id":10865,"date":"2016-09-10T08:00:50","date_gmt":"2016-09-10T06:00:50","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=10865"},"modified":"2016-09-08T10:05:58","modified_gmt":"2016-09-08T08:05:58","slug":"matthias-brandt-raumpatrouille","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2016\/09\/matthias-brandt-raumpatrouille\/","title":{"rendered":"Matthias Brandt – Raumpatrouille"},"content":{"rendered":"

Wem Matthias Brandt vor allem als Schauspieler und Sohn Willy Brandts ein Begriff ist, der wird wom\u00f6glich angesichts eines von ihm geschriebenen Buches kurz aufst\u00f6hnen: wieder einer, der auch noch ein Buch schreiben muss. In diesem speziellen Fall w\u00e4re jedes St\u00f6hnen allerdings g\u00e4nzlich unbegr\u00fcndet, denn mit Raumpatrouille<\/em> ist Brandt ein fantastisches und warmherziges Buch gelungen.<\/strong><\/p>\n

Es ist kein Roman. Es sind keine Kurzgeschichten. Viel mehr sind es kurze Episoden einer besonderen, von der Kanzlerschaft des Vaters \u00fcberschatteten Kindheit, denen Matthias Brandt in seinem Deb\u00fct nachsp\u00fcrt. Ohne Wachschutz darf er das Anwesen nicht verlassen, den vielbesch\u00e4ftigten Vater sieht er blo\u00df sporadisch. Willy Brandt hat gar einen separaten Hauseingang, der es ihm erlaubt, unbemerkt wie ein Geist ein- und auszugehen. In der Nachbarschaft wohnt Heinrich L\u00fcbke, Bundespr\u00e4sident a.D., den er des\u00f6fteren zum Kakaotrinken besucht. Matthias Brandt w\u00e4chst im Schatten bundesrepublikanischer Politik und ihrer Akteure auf. Regelm\u00e4\u00dfig kommen alte Herren zu Besuch, die ihm gedankenverloren den Kopf t\u00e4tscheln. Als er Briefmarken zu sammeln beginnt, stellt er schnell fest, dass viele der auf ihnen Abgebildeten zum unmittelbaren Umfeld seines Vaters geh\u00f6ren. Er muss sich arrangieren mit einem Leben, das sich von dem seiner Altersgenossen gravierend unterscheidet. Nichts ist ihm mehr zuwider als eine besondere, herausgehobene Position; lieber will er sein wie alle anderen. Um sich nicht angreifbar zu machen, beteiligt er sich in der Schule an den H\u00e4nseleien eines Au\u00dfenseiters, mit dem er au\u00dferhalb des Unterrichts heimlich Zeit verbringt.<\/p>\n

Mit einem untr\u00fcglichen Sinn f\u00fcr die Komik des Staatstragenden in der Kollision mit dem Profanen beschreibt Brandt einen Fahrradausflug, der zwischen den zerstrittenen Herren Brandt und Wehner arrangiert wurde. Brandt junior soll dabei als Puffer fungieren, um gr\u00f6\u00dfere Eskalationen zu vermeiden. Nicht an das Fahrradfahren gew\u00f6nnt, beendet Willy Brandt schlie\u00dflich den Vers\u00f6hnungsauflug unfreiwillig im Gem\u00fcsebeet, w\u00e4hrend Herbert Wehner hilflos die an den “K\u00e4fer Samsa” erinnernden leiblichen Ordnungsbem\u00fchungen seines Kollegen betrachtet. Bei dem Versuch, sein Zauberequipment im Rahmen einer bevorstehenden Familienfeier einem sinnvollen Zweck zuzuf\u00fchren, z\u00fcndet Brandt junior versehentlich die Gardinen an und lernt daraus etwas Wesentliches f\u00fcr die Zukunft. Die Unumkehrbarkeit dieses Zwischenfalls setzt in ihm ganz langsam das Erwachsenwerden in Gang. “Ich hatte geglaubt”, schreibt Brandt, “dass alles umkehrbar und verzeihbar w\u00e4re. Dieser Moment, in dem ich ahnte, dass das nicht stimmte, war der schrecklichste, den ich bisher erlebt hatte.”<\/p>\n

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Mir dauernd den Kopf zu t\u00e4tscheln, war eine schlimme Angewohnheit vieler dieser Herren, die in unser Haus kamen. Drei bis vier Klapse auf den Hinterkopf oder die Sch\u00e4deldecke, unter der mein Hirnwasser sich kr\u00e4uselte wie die Oberfl\u00e4che des Froschweihers, wenn ich Steinchen hineinwarf.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Alle geschilderten Episoden sind erkennbar in ihrer Zeit verortet. So weckt die Mondlandung der Amerikaner 1969 in Brandt die Sehnsucht, Astronaut zu werden. Aus dem Radio t\u00f6nen die Schlager der Zeit; Peter Orloff, Ricky Shayne oder James Last. Im Fernsehen die Gesichter von Ilja Richter, Wim Thoelke und Uwe Seeler. Besonders eindringlich beschreibt Brandt einen Besuch der Familie auf der Kirmes, der sich unter den gegebenen Umst\u00e4nden eher gesch\u00e4ftsm\u00e4\u00dfig und besch\u00e4mend ausnimmt. Der Familie wird der Weg freigemacht, sie werden von den \u00fcbrigen Besuchern abgeschirmt und offensichtlich auch vor der Schmach des Verlierens an der Losbude bewahrt. Hier bewahrheitet sich der Ausspruch: das Gegenteil von gut ist gut gemeint<\/em>.<\/p>\n

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Wir gehen zu einer Losbude. Davor stehen Verk\u00e4ufer, die Lose in kleinen Plastikeimern anbieten. Ich frage meine Mutter, ob ich Geld f\u00fcr ein paar bekommen k\u00f6nnte. Die Entourage wird unruhig, ich sehe jemanden mit den Fotografen reden. Dann wird einem der Verk\u00e4ufer ein gro\u00dfer Geldschein zugesteckt und der Loseimer aus der Hand genommen. Man h\u00e4lt ihn mir hin. Ich soll jedes der kleinen Lose aufpulen, so lange, bis ich endlich den Hauptgewinn gezogen habe. Wie auch immer der aussehen mag. Das Suchen dauert lange, meine Finger werden taub.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Raumpatrouille<\/em> beeindruckt nicht vorrangig durch eine besonders elaborierte Sprache oder erfinderische Komposition, sondern viel mehr durch eine \u00fcberzeugende kindliche Erz\u00e4hlstimme, das Zeitkolorit und den realen Hintergrund der Figuren. Brandts Witz und seine gute Beobachtungsgabe gew\u00e4hren Einblick in die Schattenseiten eines \u00f6ffentlichen Lebens und den Wunsch, im besten Sinne gew\u00f6hnlich zu sein, wie er es bei einem Besuch eines Freundes erlebt. Kurz denkt er gar \u00fcber M\u00f6glichkeiten nach, die Familie zu verlassen. Und doch steht am Ende die Vers\u00f6hnung, mit dem Vater und mit dem Leben. Viele der Geschichten sind au\u00dferdem Teil eines Projekts<\/a> mit dem Musiker Jens Thomas, dessen Album Memory Boy <\/em>entscheidenden Einfluss auf ihre Entstehung ausge\u00fcbt hat. Hier<\/a> kann man sich die Musikst\u00fccke zu einzelnen Kapiteln anh\u00f6ren.<\/p>\n

Matthias Brandt: Raumpatrouille. Kiepenheuer & Witsch<\/a>. 176 Seiten. 18,00 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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