{"id":10797,"date":"2016-09-04T08:00:46","date_gmt":"2016-09-04T06:00:46","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=10797"},"modified":"2016-09-02T21:45:58","modified_gmt":"2016-09-02T19:45:58","slug":"anna-weidenholzer-weshalb-die-herren-seesterne-tragen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2016\/09\/anna-weidenholzer-weshalb-die-herren-seesterne-tragen\/","title":{"rendered":"Anna Weidenholzer – Weshalb die Herren Seesterne tragen"},"content":{"rendered":"

Gl\u00fcck ist messbar. Jedenfalls, wenn man in Bhutan lebt und einen ausufernd umfangreichen Fragebogen zur eigenen Lebenssituation ausgef\u00fcllt hat. Aus dessen Antworten errechnet sich das sogenannte Bruttonationalgl\u00fcck. Wie gerecht erleben Menschen ihren Zugang zu Bildung, Kultur oder Gesundheit? Was steht ihnen dabei im Weg? Und woher kommt die Angst, die das gesellschaftliche Fundament unterh\u00f6hlt? Der pensionierte Lehrer Karl Hellmann macht sich in einem zuf\u00e4llig ausgew\u00e4hlten Ort auf die Suche nach Antworten.<\/strong><\/p>\n

Karl hat Margit nicht gesagt, dass er, bewaffnet mit den bhutanischen Fragen zum Lebensgl\u00fcck, das Haus verl\u00e4sst, um in einer zuf\u00e4llig ausgew\u00e4hlten Kleinstadt zu forschen. Karl ist ein einfacher und unauff\u00e4lliger Charakter, angesiedelt irgendwo zwischen Loriot und Herrn Janosch. Etwas linkisch zwar, aber ungemein liebensw\u00fcrdig dabei. Und er will wissen, was die Menschen gl\u00fccklich macht; oder viel mehr: was sie daran hindert. Seine erste Gespr\u00e4chspartnerin wird die Wirtin der Pension, in die er sich einmietet. Es ist leer dort und zu warm f\u00fcr die Jahreszeit, l\u00e4ngst h\u00e4tte es schneien m\u00fcssen, um Wintersportler anzulocken. Die Wirtin und ihre H\u00fcndin Annemarie sind gen\u00fcgsam, nur beim Tarot bl\u00fcht die Frau etwas auf, deren Namen Karl aus Respekt vor der Wissenschaft nicht zu Papier bringen will. Seine ebenso zuf\u00e4llig wie der Ort ausgew\u00e4hlten Gespr\u00e4chspartner hei\u00dfen F1 oder M3, Frau oder Mann, alles andere wird durchnummeriert. Mit der sich daraus ergebenden Distanz scheint er akademischen Standards Gen\u00fcge zu tun, viel mehr aber braucht er selbst das Bedeckte und Unverbindliche.<\/p>\n

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Wenn nichts gelingt, ist es besser, man l\u00e4sst den Tag gewesen sein.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Die Menschen im Ort sind traurig l\u00e4chelnde Fatalisten, die das Leben bislang nicht nur gelehrt hat, dass man immer allenfalls zwei M\u00f6glichkeiten hat, von denen eine zum Himmel stinkt, sondern auch, dass sie kein gigantisch gro\u00dfes Gl\u00fcck erwarten k\u00f6nnen. Aus Tagen, die Karl f\u00fcr den Aufenthalt veranschlagt hat, werden Wochen. Er l\u00e4sst sich hineinfallen in das Leben der Bewohner, zuerst noch streng an seinem Fragebogen orientiert, f\u00fcr dessen Beantwortung er mindestens drei Stunden veranschlagt; dann zunehmend offener in den Formen des Miteinanders, trotz aller Unbeholfenheit. Anna Weidenholzer erz\u00e4hlt behutsam und mit einem geschulten Auge f\u00fcr Details, f\u00fcr das Absonderliche im Gew\u00f6hnlichen. Ihre S\u00e4tze sind verschlungen, w\u00fcrdigen Kleinigkeiten, schweifen ab. Perspektivisch changiert der Text zwischen personaler Erz\u00e4hlstimme und erlebter Gedankenrede, immer wieder sickern Karls eigene Wahrnehmungen gleich tastenden Ausl\u00e4ufern in den Text und f\u00e4rben ihn ein. Seine Fragen, seine Bedenken, seine Unsicherheiten; sie sind zu jedem Zeitpunkt pr\u00e4sent und bieten Anlass zum Schmunzeln. So fleht er seine daheimgebliebene Margit an:<\/p>\n

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Ja, ich wei\u00df. Ja, die Kommunikation ist die Basis einer Beziehung, so wie die Wurzeln beim Baum, kappt man sie, f\u00e4llt er um. Das wei\u00df ich doch alles, Margit, aber die Liebe ist auch wie der Giersch im Blumenbeet, den bekommst du nicht einfach so weg, indem du ihn ausrei\u00dft.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Weshalb die Herren Seesterne tragen <\/em>ist ein leises, ein zur\u00fcckhaltendes Buch nicht nur \u00fcber das Gl\u00fcck und widrige Umst\u00e4nde, sondern \u00fcber die Bedeutung von Zusammenhalt und Mitmenschlichkeit. Die Kapitel sind \u00fcberschrieben mit der Entfernung, die Karl von seiner Heimat trennt. Sehr lange bewegt er sich gar nicht, jedes Kapitel tr\u00e4gt den Titel Dreihundertvierundsiebzig Kilometer<\/em>. Karl Hellmann, auf dessen Pyjama der Aufdruck eines g\u00e4hnenden L\u00f6wen prangt und der bei Missstimmungen ein kochend hei\u00dfes Bad bevorzugt, ist ein einsamer Suchender. Vorgeblich im Sinne der Wissenschaft, tats\u00e4chlich aber vor allem, um selbst einen Ausweg aus seinem eigenen Dilemma zu finden. Erst in der Begegnung, wenn auch vor dem Hintergrund eines strengen Korsetts von Fragen, l\u00f6st er sich langsam aus der Starre, die ihn befallen hat. Hat Anna Weidenholzer mit diesem melancholisch-skurrilen Roman ein buchpreisverd\u00e4chtiges Werk geschrieben? Vielleicht nicht, daf\u00fcr ist es zu zaghaft, zu versponnen. Aber in genau dieser Versponnenheit, dem gelungenen Miteinander von Tragik und Komik, liegt seine gro\u00dfe Qualit\u00e4t. Weshalb die Herren (auf einem Foto) Seesterne tragen, ist \u00fcbrigens umstritten. Ebenso vielleicht wie die Frage nach etwas so Fl\u00fcchtigem wie Gl\u00fcck.<\/p>\n

Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen. Matthes & Seitz Berlin<\/a>. 192 Seiten. 20,00 \u20ac.<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Gl\u00fcck ist messbar. Jedenfalls, wenn man in Bhutan lebt und einen ausufernd umfangreichen Fragebogen zur eigenen Lebenssituation ausgef\u00fcllt hat. Aus dessen Antworten errechnet sich das sogenannte Bruttonationalgl\u00fcck. Wie gerecht erleben Menschen ihren Zugang zu Bildung, Kultur oder Gesundheit? Was steht ihnen dabei im Weg? Und woher kommt die Angst, die das gesellschaftliche Fundament unterh\u00f6hlt? Der pensionierte Lehrer Karl Hellmann macht sich in einem zuf\u00e4llig ausgew\u00e4hlten Ort auf die Suche nach Antworten. Karl hat Margit nicht gesagt, dass er, bewaffnet mit den bhutanischen Fragen zum Lebensgl\u00fcck, das Haus verl\u00e4sst, um in einer zuf\u00e4llig ausgew\u00e4hlten Kleinstadt zu forschen. Karl ist ein einfacher und unauff\u00e4lliger Charakter, angesiedelt irgendwo zwischen Loriot und Herrn Janosch. Etwas linkisch zwar, aber ungemein liebensw\u00fcrdig dabei. Und er will wissen, was die Menschen gl\u00fccklich macht; oder viel mehr: was sie daran hindert. Seine erste Gespr\u00e4chspartnerin wird die Wirtin der Pension, in die er sich einmietet. Es ist leer dort und zu warm f\u00fcr die Jahreszeit, l\u00e4ngst h\u00e4tte es schneien m\u00fcssen, um Wintersportler anzulocken. Die Wirtin und ihre H\u00fcndin Annemarie sind gen\u00fcgsam, nur beim Tarot …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":10812,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[2284,2250,1336,2285],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2016\/08\/DSCN8776.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10797"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=10797"}],"version-history":[{"count":7,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10797\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":10818,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10797\/revisions\/10818"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/10812"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=10797"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=10797"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=10797"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}