{"id":10760,"date":"2016-08-28T08:00:29","date_gmt":"2016-08-28T06:00:29","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=10760"},"modified":"2016-08-25T18:27:53","modified_gmt":"2016-08-25T16:27:53","slug":"david-vann-aquarium","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2016\/08\/david-vann-aquarium\/","title":{"rendered":"David Vann – Aquarium"},"content":{"rendered":"

David Vann ist bekannt f\u00fcr seine abgr\u00fcndigen und unerbittlichen Familienromane. Aus der Keimzelle Familie und den wechselseitigen Abh\u00e4ngigkeiten, die sie mit sich bringt, entwickelt er seine schlagkr\u00e4ftigen Geschichten von Aufopferung und Macht. Diesem Schema bleibt er auch in Aquarium<\/em> treu; einem Roman, der sich bis an die Grenzen des Ertr\u00e4glichen wagt.<\/strong><\/p>\n

Ein Leben ist dem anderen stets fremd, <\/em>hei\u00dft es im zweiten Drittel von Vanns Roman. Was wei\u00df man schon vom Leiden und den K\u00e4mpfen eines anderen? Wie nah kann man ihm und seiner Sicht der Welt kommen? Franz Kafka schrieb in einem Brief an seinen Mitsch\u00fcler Oskar Pollak: Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was wei\u00dft Du von den Schmerzen, die in mir sind und was wei\u00df ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen w\u00fcrde und weinen und erz\u00e4hlen, was w\u00fcsstest Du von mir mehr als von der H\u00f6lle, wenn Dir jemand erz\u00e4hlt, sie ist hei\u00df und f\u00fcrchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrf\u00fcrchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur H\u00f6lle.<\/em> David Vann jedenfalls zeichnet in seinem Roman eine m\u00f6gliche H\u00f6lle von vielen. Die zw\u00f6lfj\u00e4hrige Caitlin Thompson lebt allein mit ihrer Mutter in einer Wohnung, in der nichts lebendig ist. Die W\u00e4nde sind kahl, die Gl\u00fchbirnen nackt, der Kontakt nach au\u00dfen sehr begrenzt. Einzig ihre Freundin Shalini ist ein Bezugspunkt f\u00fcr sie, neben ihrer Mutter Sheri gibt es keine Verwandten, von denen sie w\u00fcsste. Sheri arbeitet hart im \u00f6rtlichen Containerhafen, um dieses Minimum an Lebensstandard aufrechtzuerhalten, ein eigenes erf\u00fclltes Leben kann sie sich nicht leisten. Sie will, wie viele Eltern, ihrer Tochter Besseres erm\u00f6glichen und schweigt \u00fcber die eigene Vergangenheit.<\/p>\n

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Die Haie wie M\u00f6nche, gleichf\u00f6rmige Tage, endloses Kreisen, keine Sehnsucht nach mehr, nur diese Bewegung. Augen, die sich verschleierten, kein Bedarf mehr, zu sehen. Kein schickes Gewand, sondern Grau mit Wei\u00df darunter. Von oben betrachtet konnten sie aussehen wie der Meeresgrund. Von unten wie der Himmel.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Tag f\u00fcr Tag besucht Caitlin das \u00f6ffentliche Aquarium, um sich die Fische dort anzusehen. Sie m\u00f6chte Ichthyologin werden und erkennt in den Fischen nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch dessen Beschr\u00e4nktheiten. Als sie dort eines Tages einen \u00e4lteren Mann trifft, beginnen die beiden \u00fcber verschiedene Meerestiere und damit eigentlich \u00fcber das Leben an sich zu fachsimpeln. Vann gelingt es hervorragend, die Betrachtungen der Tiere auf die inneren Bewegungen Caitlins abzustimmen. Nicht nur erblickt sie in ihnen die Furchtlosigkeit und Sicherheit eines klar abgegrenzten Lebensraums, sondern auch die be\u00e4ngstigende Abh\u00e4ngigkeit eines Wesens von einem anderen. Caitlin sieht nicht nur ihre Welt im Aquarium gespiegelt, sondern die zahllosen anderen Welten innerhalb der Becken. Die eigene Bedeutungslosigkeit erschreckt sie und ihre Einsamkeit, die noch durch den Umstand verst\u00e4rkt wird, dass au\u00dfer ihrer Mutter niemand f\u00fcr sie sorgt und an ihrem Leben teilnimmt. Durch den gesamten Roman ziehen sich kunstvoll gesetzte Metaphern, die allesamt einen Bezug zu Fischen oder Aquarien aufweisen. Es ist Caitlins Art, ihre zunehmend aus den Fugen geratende Welt in etwas Bekanntes zu \u00fcberf\u00fchren, das sich nicht ihrer Einordnung widersetzt. Der alte Mann, mit dem sie das Interesse zu Fischen zu teilen scheint, erweist sich schlie\u00dflich als ihr Gro\u00dfvater, der den fragilen Mikrokosmos, in dem Caitlin und Sheri leben, zum Einsturz bringen wird. Das heimische Aquarium bekommt Risse und durch die schmalen Ritzen dringt der ungekannte Schmerz, der unb\u00e4ndige Vernichtungswille ihrer Mutter.<\/p>\n

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Unsere Dummheit ist \u00fcberw\u00e4ltigend traurig. Doch wenn ich eine Mondqualle betrachte, deren Schirmsternbild in die endlose Nacht pulsiert, denke ich, vielleicht ist alles gut.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

David Vann legt erbarmungslos die Urkatastrophen der Familie blo\u00df, die weit \u00fcber den Moment hinaus katastrophale Verw\u00fcstung in den Leben der Beteiligten angerichtet haben. Er pr\u00e4sentiert eine Dynamik, die den Einzelnen als seinen Verwundungen ausgeliefert beschreibt, dazu verdammt, die eigenen Schrecken an Folgegenerationen abzugeben. Der Schmerz ist ein Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Der einzige Weg aus einer unaufhaltbaren Abw\u00e4rtsspirale ist das offene Wort. Es ist m\u00f6glich, auszubrechen, wenn das Erbe nicht mehr wortlos weitergetragen, sondern ausgesprochen zur Debatte steht. Es bleibt fraglich, wie viel einem anderen allein durch Worte vermittelbar ist, das Schweigen jedoch ist toxisch. David Vann geht dahin, wo es weh tut, verbei\u00dft sich mit kathartischer Absicht in den haltlosen Leben seiner Protagonisten. Niemals wird er dabei schw\u00fclstig, pathetisch oder gef\u00e4llig. Ihm gelingt, selbst dann noch Verst\u00e4ndnis f\u00fcr seine Protagonisten zu erzeugen, wenn sie l\u00e4ngst \u00fcber das Ma\u00df des Ertr\u00e4glichen hinausgehen. Aquarium<\/em> ist eine harte, eine bewegende und aufr\u00fcttelnde Lekt\u00fcre!<\/p>\n

David Vann: Aquarium. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Suhrkamp Verlag<\/a>. Mit Illustrationen von Chris Russell. 282 Seiten. 22,95 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

David Vann ist bekannt f\u00fcr seine abgr\u00fcndigen und unerbittlichen Familienromane. Aus der Keimzelle Familie und den wechselseitigen Abh\u00e4ngigkeiten, die sie mit sich bringt, entwickelt er seine schlagkr\u00e4ftigen Geschichten von Aufopferung und Macht. Diesem Schema bleibt er auch in Aquarium treu; einem Roman, der sich bis an die Grenzen des Ertr\u00e4glichen wagt. Ein Leben ist dem anderen stets fremd, hei\u00dft es im zweiten Drittel von Vanns Roman. Was wei\u00df man schon vom Leiden und den K\u00e4mpfen eines anderen? Wie nah kann man ihm und seiner Sicht der Welt kommen? Franz Kafka schrieb in einem Brief an seinen Mitsch\u00fcler Oskar Pollak: Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was wei\u00dft Du von den Schmerzen, die in mir sind und was wei\u00df ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen w\u00fcrde und weinen und erz\u00e4hlen, was w\u00fcsstest Du von mir mehr als von der H\u00f6lle, wenn Dir jemand erz\u00e4hlt, sie ist hei\u00df und f\u00fcrchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrf\u00fcrchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur H\u00f6lle. David …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":10761,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,839],"tags":[2278,2277,1769],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2016\/08\/DSCN8762.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10760"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=10760"}],"version-history":[{"count":10,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10760\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":10774,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10760\/revisions\/10774"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/10761"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=10760"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=10760"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=10760"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}