{"id":10745,"date":"2016-08-26T08:00:21","date_gmt":"2016-08-26T06:00:21","guid":{"rendered":"http:\/\/literatourismus.net\/?p=10745"},"modified":"2016-08-22T18:34:02","modified_gmt":"2016-08-22T16:34:02","slug":"tim-parks-worueber-wir-sprechen-wenn-wir-ueber-buecher-sprechen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/literatourismus.net\/2016\/08\/tim-parks-worueber-wir-sprechen-wenn-wir-ueber-buecher-sprechen\/","title":{"rendered":"Tim Parks – Wor\u00fcber wir sprechen, wenn wir \u00fcber B\u00fccher sprechen"},"content":{"rendered":"

B\u00fccher \u00fcber B\u00fccher gibt es viele<\/a>. Sie handeln von der heilsamen Wirkung der Literatur (Lesen als Medizin<\/a><\/em>, Die Romantherapie<\/a><\/em>) oder frischen unsere Kenntnisse der Weltliteratur<\/a> auf. Sie alle behandeln die \u00fcberzeitlichen Vorteile des Lesens, die Kulturtechnik, das Buch als bewahrenswerte Erfindung. Tim Parks wiederum nimmt sich in seinen Essays ganz aktuelle Themen in Zusammenhang mit B\u00fcchern vor. Brauchen wir wirklich Geschichten? Wie steht es mit Ebooks und dem Urheberrecht? Wie ver\u00e4ndert der Zwang zur Selbstvermarktung die literarische Arbeit eines Autors? Parks’ Betrachtungen sind anregend, kritisch und unbequem – ein echter Gewinn!<\/strong><\/p>\n

Es wird viel romantisiert, wenn es um B\u00fccher geht. Angefangen bei Lobliedern auf Geruch und Haptik \u00fcber das Beschw\u00f6ren fremder Welten bishin zu nachweisbaren neurologischen Lerneffekten. Schlie\u00dflich, hei\u00dft es, werden im Gehirn beim Lesen des Wortes “laufen” dieselben Areale aktiviert wie wenn wir tats\u00e4chlich laufen. Das muss doch was bedeuten! Tim Parks hat da einen deutlich pragmatischeren Standpunkt:<\/p>\n

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Was f\u00fcr ein Unsinn! Als k\u00f6nnte uns das Lesen \u00fcber Sex oder Gewalt auch nur ann\u00e4hernd auf die Erfahrung ihrer Intensit\u00e4t vorbereiten.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Wenn ein Roman aber das Leben nicht abbilden und uns auf nichts vorbereiten kann – was ist er dann? Parks, der seit einigen Jahrzehnten in Italien lebt und an der Universit\u00e4t Mailand u.a. Literarisches \u00dcbersetzen lehrt, nimmt sich in seinen Essays einige Mythen und Allgemeinpl\u00e4tze zur Brust. So z.B. das vielzitierte Diktum, dass wir Geschichten nicht nur sch\u00e4tzen, wenn man sie uns anbietet, sondern dass wir sie tats\u00e4chlich brauchen<\/em>, dass sie notwendig<\/em> sind. Parks vertritt u.a. die These, dass der Roman unseren heute vielger\u00fchmten Individualismus ma\u00dfgeblich bef\u00f6rdert hat. Ein vielschichtiger Roman, der kongruente Lebensereignisse in einen gr\u00f6\u00dferen Sinnzusammenhang einordnet, n\u00e4hrt die Idee eines unersch\u00fctterlichen Ichs. In einer Gesellschaft, die ma\u00dfgeblich auf der Idee von Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung des einzelnen Individuums basiert, muss die Best\u00e4tigung dieses Credos gefragt sein. Und mit ihr der Roman. Aber brauchen wir ihn?<\/p>\n

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Ich vermute, nicht. Stellen wir die Frage zum Beispiel einem buddhistischen Priester, w\u00fcrde er sagen, genau diese Illusion von Individualit\u00e4t sei es, was so viele Menschen im Westen ungl\u00fccklich mache. Wir sind gefesselt von der Narration des Ichs, das nicht wirklich existiert, die auch beim Schreiben von Romanen hergestellt wird. Schopenhauer h\u00e4tte dem zugestimmt. Den Menschen werde, wie er sagte, “durch Romane eine ganz falsche Lebensansicht untergeschoben” (…)<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Als \u00dcbersetzer von u.a. Italo Calvino, Roberto Calasso oder Machiavelli ist Parks insbesondere an dem Spannungsverh\u00e4ltnis zwischen National- und Weltliteratur interessiert. In einer Zeit, in der ein “Weltmarkt” f\u00fcr Literatur existiert, ver\u00e4ndern sich die Bedingungen des Schreibens. Global weniger verk\u00e4ufliche und vermittelbare Literatur droht im Strom unterzugehen und marginalisiert zu werden. So kommt es vor, schildert Parks, dass Autoren einen Schreibstil in ihrer Landessprache entwickeln, der sich besonders leicht ins Englische \u00fcbertragen l\u00e4sst. Sie vermeiden regional gef\u00e4rbte Ausdr\u00fccke oder Schilderungen, die das internationale Publikum wom\u00f6glich erst m\u00fchsam entschl\u00fcsseln m\u00fcsste. Es entstehen gegl\u00e4ttete und angepasste Romane (“globale Romane”), die einem bestimmten Schema folgen und auf ein bereits im Vorfeld imaginiertes Publikum zielend geschrieben sind. So wurden auch in Parks’ Romanen bestimmte Eigenheiten des Britischen oder Italienischen f\u00fcr das amerikanische Publikum angepasst, ohne, dass daf\u00fcr wirklich die Notwendigkeit bestanden h\u00e4tte.<\/p>\n

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Obgleich ich aus England komme – einem Land, das immernoch Meilen verwendet -, hatte ich Entfernungen in Metern und Kilometern angegeben, und nun festzustellen, dass sich meine italienischen Figuren in Yards und Meilen und nat\u00fcrlich Fahrenheit ausdr\u00fccken, was sie nie tun w\u00fcrden, kam mir seltsam vor. Oder dass sie a.m. und p.m. sagten, anstatt die 24-Stunden-Z\u00e4hlung zu verwenden, was sie meistens tun, selbst in einer normalen Unterhaltung. Abgesehen davon, dass jetzt einige S\u00e4tze h\u00f6lzern und komisch wirkten, begann ich mich langsam zu fragen, ob amerikanische Leser dieses Ma\u00df an F\u00fcrsorglichkeit wirklich brauchen oder wollen.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Parks schreibt \u00fcber Literaturpreise und die Paradoxie u.a. des Nobelpreises, aus einem, in Relation zu der Zahl an B\u00fcchern auf dem Markt, relativ kleinen Pool einen Preistr\u00e4ger oder eine Preistr\u00e4gerin zu w\u00e4hlen. Muss nicht jede Entscheidung immer und zwangsl\u00e4ufig unzul\u00e4nglich sein? Weshalb messen wir im Grunde recht zuf\u00e4lligen Preisen wie diesen dennoch so viel Bedeutung bei? Als AutorIn sieht man sich nicht nur gezwungen, Preise zu gewinnen, um im Gespr\u00e4ch zu bleiben, sondern auch ein gewisses H\u00e4ndchen f\u00fcr Marketing in Eigenregie zu entwickeln. Vielerorts w\u00fcnscht man sich noch immer den unangepassten, rebellischen Autor – auch das eine romantische Vorstellung -; mit den Erfordernissen des Marktes aber hat das wenig zu tun, auch wenn sich Rebellion nat\u00fcrlich gut als Marke verkaufen l\u00e4sst. Ist die Verweigerung des Ebooks nicht auch durch einen gewissen kulturellen Besitzanspruch begr\u00fcndet? Inwieweit tr\u00e4gt Literatur m\u00f6glicherweise auch zur Konstitution von Zust\u00e4nden bei, die sie kritisiert?<\/p>\n

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Ein vorgeblich unkonventionelles Publikum liebt also das Image des rebellischen oder zumindest bewundernswert unabh\u00e4ngigen Schriftstellers, aber eben dieser Schriftsteller ist mehr und mehr gezwungen, sich, wenn er erfolgreich sein will, der Logik einer industriellen Maschinerie zu unterwerfen, die ihn wiederum zur Kultivierung eines unkonventionellen Image anspornt. Das ist eine Aufforderung zur Heuchelei.<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Man muss nicht mit allem \u00fcbereinstimmen, was Parks kritisiert, aber man muss ihm zugutehalten, dass er den Finger treffsicher in die Wunden des aktuellen Literaturbetriebs legt. Dass er unbequeme, anregende, diskussionsw\u00fcrdige Fragen auch zu Bedingungen des Schreibens stellt, ohne sich der Schw\u00e4rmerei oder des kulturpessimistischen Abgesangs schuldig zu machen. Es ist genau das, was diese Essays zu einer unheimlich lohnenswerten Lekt\u00fcre macht!<\/p>\n

Tim Parks: Wor\u00fcber wir sprechen, wenn wir \u00fcber B\u00fccher sprechen. Aus dem Englischen von Ulrike Becker und Ruth Keen. Kunstmann Verlag<\/a>. 240 Seiten. 20 \u20ac<\/span><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

B\u00fccher \u00fcber B\u00fccher gibt es viele. Sie handeln von der heilsamen Wirkung der Literatur (Lesen als Medizin, Die Romantherapie) oder frischen unsere Kenntnisse der Weltliteratur auf. Sie alle behandeln die \u00fcberzeitlichen Vorteile des Lesens, die Kulturtechnik, das Buch als bewahrenswerte Erfindung. Tim Parks wiederum nimmt sich in seinen Essays ganz aktuelle Themen in Zusammenhang mit B\u00fcchern vor. Brauchen wir wirklich Geschichten? Wie steht es mit Ebooks und dem Urheberrecht? Wie ver\u00e4ndert der Zwang zur Selbstvermarktung die literarische Arbeit eines Autors? Parks’ Betrachtungen sind anregend, kritisch und unbequem – ein echter Gewinn! Es wird viel romantisiert, wenn es um B\u00fccher geht. Angefangen bei Lobliedern auf Geruch und Haptik \u00fcber das Beschw\u00f6ren fremder Welten bishin zu nachweisbaren neurologischen Lerneffekten. Schlie\u00dflich, hei\u00dft es, werden im Gehirn beim Lesen des Wortes “laufen” dieselben Areale aktiviert wie wenn wir tats\u00e4chlich laufen. Das muss doch was bedeuten! Tim Parks hat da einen deutlich pragmatischeren Standpunkt: Was f\u00fcr ein Unsinn! Als k\u00f6nnte uns das Lesen \u00fcber Sex oder Gewalt auch nur ann\u00e4hernd auf die Erfahrung ihrer Intensit\u00e4t vorbereiten. Wenn ein Roman aber …<\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":10746,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[16,840],"tags":[916,2275,2276,1269,2274],"jetpack_featured_media_url":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-content\/uploads\/2016\/08\/DSCN8760.jpg","_links":{"self":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10745"}],"collection":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=10745"}],"version-history":[{"count":10,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10745\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":10757,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/10745\/revisions\/10757"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media\/10746"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=10745"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=10745"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/literatourismus.net\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=10745"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}