Rezensionen, Sachbuch
Kommentare 2

Mareike Nieberding – Ach, Papa

Mit dem Erwachsenwerden verändert sich in der Regel auch die Beziehung zu den eigenen Eltern. Sie sind nicht mehr Felsen in der Brandung, nicht mehr die leuchtenden Vorbilder, die sie einst waren. Viel eher transformiert der eigene Abnabelungsprozess die Eltern zu ganz normalen Menschen mit einer eigenen Geschichte. Sie haben plötzlich Stärken und Schwächen, sie werden fehlbar, manchmal auch zu einer Negativfolie, an der man sich abarbeitet. Mareike Nieberding war immer ein Papa-Kind, aber nach ihrem Auszug reißt die Kommunikation insbesondere zu ihrem Vater ab. Ein gemeinsamer Ausflug soll ausloten, ob und wie beide wieder zueinander finden können.

Meine eigene Geschichte ist eine vaterlose. Wo bei Mareike Nieberding ein kräftiger Kerl für sie in die Bresche springt, den MitschülerInnen schon seiner körperlichen Präsenz wegen für respekteinflößend halten, ist bei mir eine Leerstelle, die nie gefüllt wurde. Schon vor diesem Hintergrund interessierte mich, wie andere Vater-Tochter-Beziehungen gelebt und gerettet werden, wenn sie zu zerbrechen drohen. Wahrscheinlich gehört es zu den gängigen Erfahrungen, von den Eltern wenig zu wissen. Obwohl man einen Haufen Zeit miteinander verbringt, weiß man oft wenig, was für Menschen sie sind, wenn sie ihre Elternrolle ablegen. Was für Menschen sie waren, bevor sie Eltern wurden und ihnen diese Rolle zugeteilt wurde. Für Mareike Nieberding beginnt die Erkenntnis der ausgedünnten Vater-Tochter-Beziehung vor allem mit dem Empfinden, wenig voneinander zu wissen und sich auch bei obligatorischen Familientreffen nichts mehr zu erzählen. Alles bleibt an der Oberfläche, jeder verbleibt in der ihm eigenen Komfortzone. Um das aufzubrechen, lädt sie ihren Vater zu einem gemeinsamen Trip in seine Vergangenheit ein.

Misst man die Zeit, die mein Vater und ich wirklich alleine verbringen, sind es wahrscheinlich nur wenige Stunden pro Jahr. Was uns verbindet, sind Erinnerungen.

Es geht Mareike Nieberding vor der Familie ihrer eigenen Geschichte nicht nur um Vater-Tochter-Beziehungen, sondern um Dynamiken innerhalb von Familien. Wie funktioniert das Wechselspiel von Identifikation und Abgrenzung? Sich abzunabeln und von der eigenen Herkunft zu distanzieren, kann ein wichtiger Schritt sein. Nieberding zieht von der Provinz in die Großstadt und verachtet zunächst alles Provinzielle. Zurückzukehren und Verständnis zu entwickeln, ist eine Aufgabe für das Danach. Für die Zeit, in der man sicher dort steht, wo man stehen will. Was hilft dabei, innerhalb der Familie nicht zu verstummen? (Spoiler: reden, sich verletzbar machen, Gefühle kommunizieren, möglichst nicht nur Rollenmuster reproduzieren). Wie werden wir, was wir sind und was tragen unsere Eltern dazu bei?

Dabei kann man auch bemerken, dass die eigene Geschichte nicht erst mit der unvermeidlichen Geburt beginnt, sondern bereits mit den Geschichten der Eltern und ihren sich kreuzenden Wegen. Mareike Nieberding und ihr Vater gehen mit der Reise ein Risiko ein. Das Risiko, sich am Ende nichts zu sagen zu haben. Nachhaltig verlernt zu haben, offen zueinander zu sein und nachsichtig miteinander. Das Buch changiert zwischen Reisebericht, Lebenserinnerungen – eigene und die der Eltern – sowie eingeschobenen Interviewsequenzen mit dem Vater. Mareike Nieberding stellt ihrem Vater Fragen zu den Themen Liebe, Familie, Elternschaft, Leben und Tod. Als LeserIn kann man sich dabei immer wieder fragen: Wie empfindet man das selbst? Weiß man, wie die eigenen Eltern dazu empfinden? Würde man sich trauen, sie zu fragen? Ach, Papa gelingt es, diese bedeutsamen Fragen in einem gewinnenden Tonfall aufzuwerfen. Jeder kann selbst entscheiden, wo er sich mit diesen Fragen innerhalb der eigenen Familie verortet. Aber am Ende steht die Erkenntnis, dass es nicht nur Erinnerungen sein können, die Familienmitglieder zusammenhalten. Es sind auch neue Erfahrungen und Gespräche, die Grundsteine sein können für eine veränderte Beziehung. Das heißt nicht, dass man seinen Eltern alles erzählen muss. Aber es kann heißen, sie in anderem Licht zu sehen.

Wir müssen nur darauf achten, dass keiner von uns den Faden wieder fallen lässt. Dass wir uns der Verantwortung füreinander bewusst sind. Dass wir lernen unsere Erwartungen aneinander offen zu besprechen. Zu sagen, wenn uns etwas nicht passt. Nachzufragen, wenn wir merken, dass es dem anderen nicht gut geht. Zu erzählen, ohne, dass einer von uns zuvor die Frage stellen musste: Wie geht es dir?

Mareike Nieberding: Ach, Papa. Suhrkamp Verlag. 187 Seiten. 14,95 €.

Weitersagen

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar zu Melissa Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert