Kultur, Kurz & Knapp
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Kurz und knapp rezensiert im September!

In der neuesten Ausgabe meines Kurzformates geht es um ein Panorama des 20. Jahrhunderts, den Kampf zwischen Wahn und Wirklichkeit und den Versuch, sich freizuschreiben von einem alles verschlingenden Erlebnis.

Lübeck kennt sich aus mit kaputten Familien. Im Mittelpunkt dieses wagemutigen Panoramas steht einerseits ein Familienfluch, weitergegeben durch die Linie der Töchter, andererseits das 20. Jahrhundert. Prominent als Knotenpunkt vertreten ist Lübeck, pittoreske Hansestadt mit weit zurückreichender Geschichte. Svealena Kutschke hat sich viel vorgenommen mit ihrem Roman, begleitet drei Generationen der Familie Hinrichs durch Kaisertreue, Meuterei, Goldene Zwanziger, Weimarer Republik und Nationalsozialismus bis in die 90er Jahre. »Stadt aus Rauch« spielt mit folkloristischen Elementen wie dem Roggenbuk, lässt den Teufel immer wieder am Rande der Szenerie auftreten und Weichen stellen, gibt Unerklärliches zu Protokoll und greift aber auch immer wieder ganz handfeste politische und historische Ereignisse auf, in die sich die Familie als Zeitgenossen zwangsläufig verstrickt. Bei dieser Überfülle an Handlungssträngen und Ideen droht der Roman sich desöfteren zu verzetteln und zu zerfasern. Er will viel, das Große im Kleinen aufscheinen lassen, Lübecks Geschichte erzählen und die Geschichte Deutschlands auch an den Ufern der Trave finden. Es ist manchmal zu viel Staffage, zu raumgreifend, zu sättigend bei recht gefälliger Sprache. Und dann entsteht da doch ein Sog, scheinen da immer wieder Sätze aus dem Dickicht heraus zu strahlen, macht es Spaß, sich in diesem Ideenreichtum treiben zu lassen.  Vielleicht packt einen der Roggenbuk, wenn man ihm lange genug zuschaut. (P.S.: Als Lübeckerin habe ich beim Lesen einen gewissen Heimvorteil genossen)

Svealena Kutschke: Stadt aus Rauch, Eichborn Verlag, 672 Seiten, 24,00 €

Ist Gott tot oder doch auf Gotland? Michael Stavarič erzählt in »Gotland« eine wahnwitzige (im wahrsten Sinne des Wortes voll Wahn und Witz zugleich), anspielungsreiche Geschichte von (Irr)Glauben und Verlust, voller Fantasie einerseits und Beklemmung andererseits. Im Mittelpunkt der Bericht eines Jungen, aufgewachsen in einem erzkatholischen Haushalt, in dem alles seine (göttliche) Ordnung hat. Die Mutter ist Zahnärztin und saniert die Mundhöhlen ihrer Patienten bis zur Perfektion, selbst dem Jesus am hölzernen Kruzifix werden die Zähne zwischen den leicht geöffneten Lippen mit einem Wattestäbchen gereinigt.  Sein Alltag besteht aus Bibellektüre und der mehr oder minder erfolgreichen Opposition gegen die Übermacht Gottes, von der er, trotz der katholischen Schule, die er besucht, nur sporadisch überzeugt werden kann. Dennoch lernt er sein Leben immer entlang der göttlichen Weisung zu interpretieren. Es treibt ihn schließlich nach Gotland, wo die Mutter vermeintlich den Vater einmal kennengelernt hat, bevor der verschwand. Auf Gotland ist alles archaisch und Gott als Prinzip überall; in jedem Grashalm und jeder glitschigen Meereskreatur. Gotland beginnt als fixe Idee den Bericht zu überwältigen, der immer wieder zwischen pointierten Alltagsbeschreibungen, verstörenden Spleens und rätselhaften Aufzeichnungen oszilliert. Michael Stavarič hat eine Tonlage für diesen Roman gefunden, die fesselt, die mitreißt in ihrer Unbedarftheit. Was ist das nun? Ein Bildungsroman, ein Coming-of-Age-Roman, ein Märchen? Von allem ein bisschen in einer einzigartigen Mischung.

Michael Stavarič: Gotland. Luchterhand Verlag, 352 Seiten, 20,00 €

2015 schrieb Édouard Louis vom Aufwachsen in der französischen Provinz, die geprägt ist von Rassismus, Homophobie und Gewalt. »Das Ende von Eddy« erregte großes Aufsehen und war stark autobiographisch gefärbt. Auch »Im Herzen der Gewalt« basiert auf einer wahren Begebenheit, einem Übergriff, den Édouard Louis selbst erlebte. In einer Dezembernacht nimmt Louis einen Mann mit in seine Wohnung, der ihm auf der Straße begegnet. Die beiden flirten, sie schlafen miteinander, doch als Louis’ Bekanntschaft ihn bestehlen will, eskaliert die Situation. Er wird vergewaltigt und mit einer Waffe bedroht, aus Romantik und Neugier wird Todesangst. Wie schildert Louis nun diesen Vorfall? Vor allem mit einer schmerzlichen Direktheit, beginnend bei der blindwütigen Putzorgie, nachdem sein Peiniger die Wohnung verlassen hat. Er ringt mit dem Geschehen, versucht ihm Herr zu werden, schildert den Besuch bei der Polizei und lässt, ein ungewöhnlicher, erzählerischer Kniff, überwiegend seine Schwester erzählen. Édouard ist Randfigur, der belauscht, wie seine Schwester ihrem Mann vom Überfall berichtet. Unweigerlich kommt die Frage auf: Wem gehört diese Geschichte und wer eignet sie sich an? Gleichzeitig spiegelt eine solche Erzählform die maximale Ohnmacht. Selbst über die Deutung deines Erlebens hast du keine Befugnis mehr. Louis bricht mit Klischees, mit Erwartungen, wie sich Opfer – insbesondere Männer – zu benehmen haben. In seiner Verletzlichkeit liegt Stärke, in seinen zurückgenommenen Worten eine viel größere Wucht als im Pathos. Dieser Roman ist nicht nur ein Erfahrungsbericht, er ist auch Gesellschaftsanalyse. Er erzählt von Fremdheit in ganz verschiedenen Facetten, von Ohnmacht, dem Verlust von Selbstbestimmung und damit, nebenbei, auch von der Macht der Worte.

Édouard Louis. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Fischer Verlag, 224 Seiten. 20,00 €.

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