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Isabelle Autissier – Herz auf Eis

Buchhalterin Louise lässt sich von ihrem Geliebten Ludovic zu einer Weltreise überreden. Sie wollen ausbrechen aus dem Alltagskorsett des Erwartbaren und „Abenteuer erleben“, ungebunden sein. Sie laufen eine unbewohnte Insel vor Kap Hoorn an und sind begeistert von den Gletschern und Gebirgen. Die Friedfertigkeit aber findet ein jähes Ende, als ein Unwetter ihre Yacht „Jason“ fortreißt und die zwei auf der Insel zurücklässt, ohne Kontakt zur Außenwelt. Aus dem Abenteuerurlaub wird ein Überlebenskampf.

Isabelle Autissier weiß, wovon sie spricht. Sie hat als erste Frau im Rahmen einer Segelregatta die Welt allein umrundet. Sie kennt die Gegend. Den Elementen und der eigenen Einsamkeit ausgesetzt, gehört einiges an Risikobereitschaft dazu, eine Reise wie diese zu wagen. Aber auch zu zweit ist die Gefahr nicht restlos gebannt, im Gegenteil; sie liefert das subtile Nervenflattern, das untrennbar zu einer solchen Entscheidung dazu gehört. Louise und Ludovic könnten nicht unterschiedlicher sein. Sie ist zurückhaltend, präzise, bedacht. Er ein Kindskopf, “Inbegriff der Generation Y”, risikobereit, spontan. Sie plant, er macht währenddessen. Beide eint aber ein gewisser Überdruss gegenüber dem Pariser Stadtleben. Außerdem ist das Ausbrechen chic geworden, wer es sich leisten kann, entkommt dem Hamsterrad für eine Weile. Mit ihrer Yacht namens „Jason“ sind sie zwar nicht auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, aber mindestens in froher Erwartung von größerer Freiheit und Unabhängigkeit; Schlagworte der heutigen Gesellschaft. Sie legen auf einer unbewohnten Insel an, um das Gebirge und die Natur in Augenschein zu nehmen und stranden schließlich dort, nachdem ein Unwetter ihr Schiff davongerissen hat. Aus der großen Freiheit wird plötzlich ein einigermaßen überschaubares Gefängnis, aus der Unabhängigkeit die lebenserhaltende Gebundenheit an die einfachsten Dinge. Sie lernen wieder Hunger kennen, Durst und elementare Hoffnungslosigkeit.

Solange sie die Gesellschaft nachahmen, gehören sie ihr noch an. Ihr Leben darf sich nur der Form nach von dem in Paris unterscheiden, nicht dem Wesen nach.

Autissier lässt ihre Protagonisten auf der Suche nach Freiheit vor allem eines finden: Abhängigkeit. Louise und Ludovic sind abhängig vom Wetter, von der Tierpopulation auf der Insel, die ihre Ernährung hauptsächlich auf den Verzehr von Robben in sämtlichen Formen der Zubereitung zurückwirft. Sie sind abhängig von der Hoffnung, den Winter auf der Insel zu überleben, um im Frühjahr vielleicht von einem kreuzenden Forschungsschiff gerettet zu werden, abhängig von der gestaltenden Kraft des glücklichen Zufalls. Die harten Lebensbedingungen verändern die Beziehung der beiden grundlegend. Nicht nur die Prioritäten des täglichen Lebens verschieben sich – an die Stelle des eintönigen Pariser Arbeitsalltags ist mit weit größerer Dringlichkeit die eintönige Jagd von Nahrung getreten – , auch die Standpunkte der beiden zueinander erfahren eine Wandlung. Sie werden unduldsamer miteinander, beschuldigen sich gegenseitig, diese Katastrophe verursacht zu haben. Das Ursprüngliche und Archaische hat letztlich zersetzende Wirkung. Louise und Ludovic werden zu Einzelkämpfern, die nicht nur schleichend ihr Leben, sondern vor allem einander verlieren.

Ihre Beziehung ist wie ein Porzellanteller geworden, wie ein kostbares Objekt, das man mit übertriebener Vorsicht und Sorgfalt behandelt.

Extremerfahrungen sind dankbarer Stoff für Romane, werfen sie doch ganz automatisch grundlegende Fragen auf: Wie dünn ist das Eis unserer zivilisatorischen Errungenschaften? Was ordnet und strukturiert unsere Gesellschaft? Was bedeutet Freiheit, Unabhängigkeit? Welchen Preis müssen wir dafür zahlen? Wann und wie werden wir schuldig? Das durchzuspielen anhand ganz verschiedener Stationen des Extrems, ist Autissier ein Anliegen. Obwohl diese Betrachtungen zum Thema insbesondere zum Schluss eine spannende Wendung und Zuspitzung erfahren, bleibt der Roman über weite Strecken etwas blutleer und kraftlos. Ihm geht parallel zu seinen Protagonisten die Luft aus. Er setzt auf die detaillierten Beschreibungen der Lebensbedingungen, der Natur, des Wetters, auf das Repetitive des Überlebenskampfs, der als stumpfer Automatismus irgendwann die täglichen Abläufe dominiert. Die Welt schrumpft zusammen auf Robben, die Häutung von Robben, die Zerstörung der Beute durch Ratten, hin und wieder durchbrochen von einem Hoffnungsschimmer, dessen Verglühen zentnerschwer auf ihren Schultern lastet. Herz auf Eis, nominiert für den Prix Goncourt, ist ein rauer Roman, zupackend und fordernd, aber hat immer wieder Schwierigkeiten, die erzählerische Spannung zu halten.

Isabelle Autissiert: Herz auf Eis. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare Verlag. 224 Seiten. 22,00 €.

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