Luise und Ludwig sind wie Pech und Schwefel, unzertrennlich, unteilbar. Er ist nur “Bruderherz”, beim Namen nennt Luise ihn selten. Aufgewachsen im niederbayerischen Kollbach, durchzogen vom Fluss gleichen Namens, werden die Geschwister geprägt vom Schweigen und der Abgeschlossenheit des dörflichen Umfelds. Alles geht seinen Gang, bis Ludwig verschwindet und nach seiner Rückkehr ausschließlich Indonesisch spricht.
Das Dörfliche ist bei Ulrike Anna Bleier nicht idyllisch, es ist durchzogen von Trostlosigkeit, Tragödien und der nimmermüden Bestrebung, auch in kleinstem Kreise das Gesicht zu wahren. Man weiß zwar vieles, aber spricht über nichts und wenn: hinter vorgehaltener Hand. Zwei Mädchen sind vom Kirchturm in den Tod gesprungen. Im Oberpfälzer Wald nahebei hat die Konnesreuther Resl einst aus den Augen geblutet und Stigmata gehabt an Händen und Füßen. Im Fasswirtl trifft man sich, jeder kennt jeden. Luises Bruder Ludwig ist vor einigen Jahren spurlos verschwunden und nun zurückgekehrt. Was in der Zwischenzeit passiert ist, weiß niemand so genau, denn Ludwig, den Luise immer nur “Bruderherz” nennt, verweigert die deutsche Sprache. Er gibt Worte von sich, die Indonesisch sein sollen, zieht sich zurück, das Schweigen auch innerhalb der Familie erhält eine andere Qualität. Während früher das Sprechen wenigstens theoretisch möglich war, ist selbst diese Hintertür nun krachend ins Schloss gefallen. Schließlich bleibt es bei den Belanglosigkeiten, die sie sich immer zugeworfen haben, um die Stille aufzulockern.
Wir sitzen im Wohnzimmer, alle miteinander, wir versuchen miteinander zu sprechen, wie wir immer schon versucht haben, miteinander zu sprechen, leider haben wir vergessen uns Gedanken zu machen, worüber wir überhaupt sprechen wollen.
Luise ist verträumt und vernarrt in ihr “Bruderherz”. Sie bewundert sein Talent für Ordnung und Struktur, immer schon. Sie selbst arbeitet als Schwimmlehrerin und trägt den Kopf in den Wolken spazieren; wobei nie ganz eindeutig wird, ob es sich dabei weniger um eine Charaktereigenschaft als eine Notwendigkeit handelt, um im familiären und dörflichen Umfeld zu bestehen. Ulrike Anna Bleier montiert im Folgenden von Luise erzählte Erinnerungen und Beschreibungen hintereinander, die zwar, aufsteigend nummeriert, grob einer Linie folgen, jedoch nicht immer chronologisch sind oder aufeinander aufbauen. Nachdem Ludwig nach Kollbach zurückgekehrt ist, dessen namensgebender Fluss aus dem Keltischen stammend schwarzes Wasser bedeutet, verlässt Luise das Dorf und zieht in die Stadt. Sie wechseln die Positionen, doch im Hintergrund rumort die Vergangenheit. Es gibt etwas, worüber die Familie beharrlich geschwiegen hat und dass sich nun in Ludwig Bahn bricht. Er ist nicht nur “Bruderherz”, er ist als tragende Säule dieser symbiotischen Beziehung auch derjenige, der die Last schließlich nicht mehr schultern kann. Er wird in die Psychiatrie eingewiesen.
Die Mutte lebt ja sowieso in ihrer Nähzimmerwelt, sie ist bald jeden Abend im Nähzimmer, sie näht unbeirrbar zusammen, was auseinanderfällt, es ist unglaublich, was sie alles vor der endgültigen Auflösung rettet mit ihrer Näherei, so geschickt ist sie, dass das, was sie rettet, gar nicht mehr aussieht wie das, was sie mit ihrer Näherei gerettet hat, sie erschafft ganz neue Kleidung, indem sie rettet und rettet und rettet, solange rettet, bis es unansehnlich ausschaut, (…)
Bleiers Stil ist verschachtelt, fein ziseliert und verästelt, kreisend, atemlos. Über allem liegt eine Atmosphäre der Bedrohung, die Luft wird dünn, die Wände rücken näher, es ist beklemmend. Nun ist der menschliche Abgrund in dörflicher Umgebung freilich kein neuer Ansatz, doch Schwimmerbecken weiß ihn so gekonnt zu variieren und in so wirkmächtige, immer wieder vom bayerischen Idiom durchsetzte Sprache umzusetzen, dass am Ende, trotz mancher offenen Frage, eine intensive Lektüre dabei herauskommt. Konkrete Schilderungen sind selten, es dominiert vielmehr das Angedeutete, das Skizzierte und dieses Spiel mit dem Fragmentartigen entfaltet einen ganz eigenen Sog. Wer also auf der Suche ist nach einem originellen Roman, dem sei Schwimmerbecken in all seiner trotzigen Widerständigkeit empfohlen.
So ist es mit ihr gekommen, irgendwann ist es mit ihr so gekommen. Es hat ein permanenter Winterschluss- und Sommerschlussverkauf in ihr angefangen, alles, was sie sagt, sagt sie unter dem Wert, den es eigentlich wert ist, weil es einfach nur raussoll, wegsoll (…)
Unlängst wurde der Roman auch auf WDR5 vorgestellt, das könnt ihr hier nachhören.
Ulrike Anna Bleier: Schwimmerbecken. Lichtung Verlag. 160 Seiten. 16,90 €.
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