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Die Angst vor dem Abgrund

Frei nach dem Diktum Nietzsches, wer mit Ungeheuern kämpfe, möge zusehen, dass er nicht selbst zum Ungeheuer wird, gibt es im Literarischen immer wieder Berührungsängste. Viele schrecken zurück vor “Problembüchern”, die offensichtliche Unbilden des Lebens allzu plastisch thematisieren. Ein Plädoyer für den Abgrund.

Sie suche ein Buch für ihre Freundin, aber es dürfe nicht um Probleme gehen. Nicht um Beziehungsquerelen, Scheidungen, Krankheit, Tod oder gar Familie: seit Generationen das Epizentrum von Leid und Verderben. Und einem Kind ein Buch schenken, in dem es um Scheidung geht? Undenkbar! Es geht in dem Roman um häusliche Gewalt. Nein, danke. Psychische Krankheit, nein danke. Körperliche Krankheit, nein danke. Tod oder mindestens Vergänglichkeit, lieber nicht. Die ablehnenden Reaktionen im unmittelbaren Beratungsgespräch kommen prompt, im weniger unmittelbaren Rahmen offener Empfehlungsveranstaltungen sind sie verhaltener. Meistens finden sie ihren Ausdruck in höflichem Desinteresse. Es ist tatsächlich als fühlte man sich vom Abgrund des anderen bedroht, als fürchte man, selbst hineinzustürzen oder mindestens gefährlich davon angezogen zu werden. Als sei das Leid des anderen auf eine kaum fassliche Weise ansteckend, kaum, dass man davon hörte. Und ohne Zweifel, manchmal mag es sein, dass das Leiden anderer, sei es fiktiv oder real literarisch verarbeitet, uns zu nah kommt; meistens, weil es viel mehr mit uns und unserer Situation zu tun hat als wir denken.

Oft aber resultiert die Ablehnung auch aus dem Wunsch, sich und andere zu schützen. Der Abgrund ist nur noch Bedrohung, nur noch Sandkorn im Getriebe statt etwas, das unseren Blick erweitern und unsere Gedanken anregen kann. Romane wie Katharina Winklers Blauschmuck oder Thomas Melles Die Welt im Rücken erkunden Extremsituationen, stellen sie dar, reflektieren sie mittels einer literarisierten Sprache. Schon das allein ist ein bemerkenswertes Verdienst; Sprache gefunden zu haben für Unaussprechliches und dem Unbeteiligen und Nichtbetroffenen eigentlich Unvermittelbares. Sobald da Sprache für etwas ist, öffnet sich ein Raum für Kommunikation. Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur ist ein berührendes Zeugnis nicht nur einer Krankheit, sondern eines Lebens, das durch die Krankheit gezeichnet seine Schönheit und seinen Schrecken gleichermaßen offenbart. Es sind die kleinen Dinge, die Herrndorf “den Stecker ziehen”; Kinder, die noch nicht wissen, dass sie eines Tages sterben, bedingungslose Freundlichkeit und Warmherzigkeit seiner Mitmenschen. Und es sind dieselben kleinen Dinge, die einem als LeserIn “den Stecker ziehen”. Die Erkenntnis, dass nicht mehr genügend Zeit ist, um Proust zu lesen. Die reinigende und beruhigende Kraft eines Wolkenbruchs. In der Konfrontation mit dem Abgrund steckt auch eine Schönheit, die nur dort zu finden ist. Manchmal gar eine Weisheit, die sich im Glatten, Berechenbaren nicht entwickelt.

Wir mögen den Abgrund, wenn er uns einigermaßen berechenbar gruselt, aber zu weit entfernt liegt, um mit uns zu tun zu haben. Wir mögen ihn, wenn wir ihn überblicken und schon im Vorhinein vermessen können. Wir mögen ihn im Krimi und im Thriller, wir mögen ihn, wenn er skandalös überzuckert ist wie in Das Schicksal ist ein mieser Verräter oder Ein ganzes halbes Jahr. Aber gesetzt den Fall, wir können und wollen die bittere Pille schlucken so wie sie eben ist. Was nützt uns der Abgrund? Was nützt es, von manisch-depressiven Müttern (“Der goldene Reiter”, “Herzvirus”) zu lesen oder Depression im Allgemeinen, von Angst, von Gewalt und Krankheit? Wir können getröstet werden mit der simplen wie selbstverständlichen Erkenntnis, dass wir nicht allein sind. Wir können uns öffnen für eine andere Wahrnehmung der Welt, für einen anderen Umgang. Wir können das, was unvermeidlich zum Leben gehört, nicht etwa dorthin verschieben, wo wir es so lange nicht sehen, bis es uns betrifft; sondern es thematisieren, öffentlich. Wir können ein bisschen daran wachsen und unseren eigenen Dämonen Guten Tag sagen. Abgründe, Probleme und Schicksalsschläge sind nicht effizient und auch nicht besonders glamourös. Aber gerade in der Literatur können sie besondere Durchschlagskraft entfalten, wirklich etwas erzählen nicht bloß über den Menschen am Abgrund, sondern immer auch ein bisschen über uns selbst. Zugegeben: nicht jedem literarisierten Abgrund gelingt das und der literarisierte Abgrund ist nicht per se das Lesen wert.

Aber vielleicht sollten wir nicht so oft den Blick in den Abgrund scheuen, sondern ihn als Möglichkeit begreifen. Gerade die Literatur bietet die komfortable Chance, sich aus der sicheren Entfernung der Fiktion einem Thema anzunähern, Empathie zu entwickeln oder überhaupt erst einmal eine Vorstellung davon, wie ein menschlicher Abgrund beschaffen ist; ohne, dass man gleich selbst mittendrin stecken muss. Auch ein Kind wird nicht tief verstört, wenn die Eltern in einem Roman sich scheiden lassen. Vielleicht lernt es viel mehr, dass das keine unüberwindbare Katastrophe wäre. Nein, ich will nicht anderen sagen, was sie lesen sollen. Bloß Berührungsängste gegenüber unliebsamen Themen abbauen, die nicht nur bedrohlich, sondern auch bereichernd sein können in vielerlei Hinsicht.  Wir sollten offen sein und bleiben nicht nur für das Schöne und Gute, sondern auch für das Hässliche und Schmerzhafte.

Bild: Stocksnap.io

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