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Fikry El Azzouzi – Wir da draussen

Es könnte der Roman der Stunde sein. In den Niederlanden bereits 2014 erschienen, erzählt Wir da draussen von islamistischer Radikalisierung, Kriminalität und Orientierungslosigkeit. Im Mittelpunkt stehen Ayoub, Fouad, Maurice und Kevin, der sich selbst Karim nennt. Sie haben marokkanische Wurzeln und verbringen einen Großteil ihrer Zeit auf der Straße oder mit Drogen. Ihnen fehlen die Perspektive und das Vertrauen nicht nur in sich selbst und ihre Zukunft, sondern auch in die Gesellschaft, in der sie leben. Der Text verschenkt jedoch sein Potenzial.

Seit den jüngsten Terroranschlägen in Paris, Brüssel und Nizza gelangt eine Frage immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Wie können wir die Radikalisierung junger Menschen verhindern? Welche Präventionsmaßnahmen können wir ergreifen? Wie können wir die noch erreichen, die sich längst nicht mehr als Teil der Gesellschaft und mithin ihren Werten nicht mehr verpflichtet fühlen? Und wie kann es überhaupt geschehen, dass westlich sozialisierte Jugendliche dem islamistischen Terror und seiner Propaganda zum Opfer fallen? Besonders der Brüsseler Stadtteil Molenbeek hat im Hinblick auf Radikalisierung und Terrornetzwerke traurige Berühmtheit erlangt. Auch El Azzouzi lässt seinen Roman in Belgien spielen. Seine Jugendlichen scheinen die Blaupause zu sein für genau diesen Typus Außenseiter, der anfällig ist für Einflüsterungen von seiten extremistischer Gruppen: sie stammen aus einem problematischen Elternhaus, neigen zu Gewalttätigkeit und sind Kleinkriminelle ohne Perspektive.

Es gibt Tage, da wirft er mich raus auf die Straße wie Sperrmüll. Nur, dass Sperrmüll abgeholt wird, mich lassen sie stehen.

Sie haben keine Vorbilder und keine Zukunftspläne. Wenn sie nachts von ihren Eltern vor die Tür gesetzt werden, streunen sie auf der Straße herum oder vertreiben sich die Zeit in einem Waschsalon, der auch spätabends noch geöffnet hat. Was sie hochhalten, sind ihre erwachende Männlichkeit und den Zusammenhalt der Gruppe. Hat einer von ihnen Stress, sind alle anderen automatisch involviert, so verlangt es die Ehre. Während Fouad sich von Erzähler Ayoub sogar Anabolika spritzen lässt, das ihn in einen schnaufenden Muskelberg verwandelt, lebt Maurice in einer heruntergekommenen Wohnung gemeinsam mit Mo, einem Junkie. Die Jungs sind Streuner, Herumtreiber, Freiwild für Menschen, die sie für ihre Zwecke ausnutzen. So trifft der empfindsame Fouad irgendwann auf Jean-Pierre, einen selbsternannten Künstler und ehemaligen Professor, der in dem Jungen viel weniger einen Menschen als ein antikes Kunstprojekt sieht. Er versorgt ihn mit zweifelhaften Medikamenten, enthaart ihn und verordnet ihm Diäten, die seinen Körper weiter vervollkommnen sollen. Frauen sind überwiegend “Bitches” oder “Schlampen” und taugen allenfalls zur Bestätigung der eigenen Männlichkeit oder der Kompensation von Unsicherheit. Nicht, dass sie ihre Herabwürdigung von Frauen religiös begründen würden, es ist die gängige Art, über Frauen zu sprechen.

Schreib dir das hinter die Ohren, lieber Leser. Ohne Hintergedanken tut niemand was für dich. Ich glaube nicht an gute Absichten ohne Hintergedanken.

El Azzouzi, selbst marokkanischer Herkunft, lässt seine Jungs einen ganz eigenen Soziolekt sprechen und spickt ihre Rede mit Slangausdrücken wie Zehma, Tfu, chataar und tarnon, erklärt werden die Begriffe nirgends. Gelegentlich wird die lockere Umgangssprache plötzlich durch Formulierungen gebrochen, die aus dem Mund der vier lächerlich deplatziert und unglaubwürdig wirken. So verkündet Maurice im Drogenrausch, er sei “einer Erleuchtung teilhaftig” geworden. Man kann berechtigt bezweifeln, ob ein Junge wie er solche Begriffe verwenden würde. Es dauert einige Zeit, bis aus den Kleinkriminellen und Schlägern tugendhafte Gläubige werden. Letztlich trifft es auch nur Karim (“das Weißbrot” unter ihnen), der seinen Freunden plötzlich in traditioneller Kleidung von der Sünde und Vergebung predigt. Was ihn dazu treibt, beschreibt El Azzouzi allenfalls skizzenhaft. Vermutlich ist es der Selbstmord Fouads, der ihn endgültig in die Arme des radikalen Islam treibt. Genau ist das nicht auszumachen. Damit verschenkt der Roman sein größtes Potenzial: weder zeigt er die genauen Umstände der Radikalisierung (Kontakt mit extremistischen Predigern in einer Moschee z.B.) noch geht er auf die Gedanken des Radikalisierten ein – die gewählte Erzählperspektive mit dem Fokus auf den einzigen Erzähler Ayoub erschwert eine solche Innenansicht. Kevin “Karim”, nun “Abu Karim” genannt, bleibt eine Marionette, angetrieben von religiösen Floskeln. Brainwashed auf eine Art allerdings, die holzschnittartig wirkt und im Oberflächlichen verbleibt. Welche Konflikte die Jugendlichen zuhause austragen, wird  zwar sporadisch angedeutet, spielt aber eine untergeordnete Rolle. Die Entscheidung einiger, nach Syrien zu ziehen, um zu kämpfen, wirkt schließlich hektisch und eigenartig zufällig. (“Ich schloss aber eine Wette mit mir selbst ab. Wenn Abu Karims Frau den Popel aufheben würde, würde ich mitgehen.”) Letztendlich konzentriert sich Wir da draussen hauptsächlich auf die Aneinanderreihung von Situationen, in denen die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen illustriert wird – Diebstahl, Körperverletzung, Bordellbesuche, Drogenkonsum und schließlich die Radikalisierung, ohne irgendeine Dynamik breiter zu beleuchten. Möglicherweise hätte ein multiperspektivisches Erzählen das Problem gelöst, so jedenfalls trägt der Roman nicht zum größeren Verständnis bei. Er bleibt eine Momentaufnahme von Vergessenen, die die Leere ihres Lebens mit irgendetwas füllen müssen.

Fikry El Azzouzi: Wir da draussen. Aus dem Niederländischen von Ilja Braun. Dumont Verlag. 224 Seiten. 20,00.

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