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Stefan Moster – Neringa oder die andere Art der Heimkehr

Aufgerüttelt durch einen Film erlebt der Protagonist in Stefan Mosters neuem Roman eine Sinnkrise, die ihn sein Leben und vor allem seine Vergangenheit völlig neu überdenken lässt. Eine kleine Kameraeinstellung auf den Mont-Saint-Michel weckt in ihm die Geschichte seiner Familie, die vor allem aus vielen Leerstellen und unbestätigten Anekdoten besteht.

Über seinen Großvater Jakob weiß der namenlose Protagonist zu Beginn zunächst folgende Geschichte zu berichten: Jakob, der sonst als eher beherrscht und liebevoll gilt, hat sein Temeprament nicht immer im Griff. Bei Kaminbauarbeiten auf dem Dach des Hauses, das er mit seiner Frau Agnes bewohnt, läuft jedoch nichts nach Plan. Er und sein handwerklich eher mäßig begabter Schwiegersohn werden nicht pünktlich fertig und Agnes lamentiert am Boden, die beiden müssten doch jetzt zum Essen erscheinen. Jakob verliert kurz die Beherrschung und reißt die bereits gemauerte Hälfte des Kamins ein. Beinähe hätte er seine Frau mit den zu Boden fallenden Ziegeln erschlagen. Auf Familienfeiern sorgt dieser glücklich geendete Impulsivtotschlag stets für Erheiterung, schließlich weiß jeder der Anwesenden um Jakobs ansonsten sanftes Gemüt. Nichtsdestotrotz scheint für den Erzähler die eigene Familiengeschichte in Geschichten wie diesen erstarrt. Von Generation zu Generation trägt man sie weiter, das Wesentliche einer Lebensgeschichte geht verloren. Als der Enkel Jakobs nach einer beruflichen Reise nach London zurückkehrt und eher zufällig im Kino landet, sieht er einen Film, der etwas in ihm in Bewegung setzt.

Gewiss hatte ich in all den Jahren nach der durch die Postkarte entstandenen Irritation Bilder vom Mont-Saint-Michel gesehen, aber nie hatte ich mir etwas dabei gedacht. Erst der pathetische Film ließ mich auf den Anblick reagieren – der Film im Zusammenspiel mit meiner Nervosität an jenem Freitagabend, mit der Empfindsamkeit des Einsamkeitsflüchtlings im Jetlag, die ich mit ins Kino gebracht hatte.

Jakob, gelernter Pflasterer, war als Soldat im Zweiten Weltkrieg am Mont-Saint-Michel. Mit seinen Kameraden fuhr er bei Ebbe an die kleine Gemeinde heran und besuchte die Abtei im Zentrum. Nach Hause schickte er eine Postkarte, die im Familienkreis verlesen wurde und seinen Enkel Jahrzehnte später wieder an ihn erinnern wird. Im Erzählverlauf arbeitet Stefan Moster nicht nur nach Kräften die Geschichte des Großvaters auf, er verdeutlicht auch den tiefen Graben von zwei Generationen, der die beiden voneinander trennt. Der Großvater Pflasterer, Handwerker, rechtschaffen und solide. Er, jetzt Mitte fünfzig, ist betraut mit dem Projektmanagement innerhalb verschiedener Wirtschaftsunternehmen. Über Themen wie Identität oder Motivation musste sein Großvater sich nie Gedanken machen. Er war, wer er eben war und tat mit Leidenschaft und Ernst, was seinen Lebensunterhalt sicherte. Im Leben seines Enkels sieht es deutlich anders aus. Es geht in seiner Branche um Image, Ausstrahlung, Verhandlungsgeschick, die richtige Zeit und die passenden Catchphrases. Für ihn ist es von großer Bedeutung, einzigartig zu sein, herausragend, eben “ein Jemand”.  Auch wenn er vor sich selbst immer mehr in Rechtfertigungsnot über die Redlichkeit und den Sinn seiner Arbeit gerät.

Was aber würde mein Enkelkind entdecken, sollte es sich einmal auf die Suche nach meinen Spuren begeben? Alles, was ich tue, dachte ich, löst sich im Stofflosen auf, nicht die geringste Fingerspur bleibt übrig.

Es ist eine der zentralen Fragen des Romans: Was bleibt einmal von mir? Welche Geschichten wird man sich von mir einmal erzählen? Wir alle basteln zugunsten des Wohlbefindens an unserer eigenen Lebens – und Familiengeschichte herum, unsere Erinnerungen über uns selbst und die anderen sind nicht immer verlässlich. Das muss auch der Erzähler im Verlauf der Geschichte feststellen: Vieles, was er von seinem Großvater zu wissen glaubte, erweist sich als falsch. Die Orientierung in seinem Leben droht ihm zu entgleiten, bis er seine litauische Putzfrau Neringa näher kennenlernt. Sie lebt den Moment und ihre Leidenschaft – das Figurentheater -, ohne ständige Sorgen um Vergangenheit und Zukunft. Dafür hat sie ihre Heimat verlassen. Nach einer von Wut und Selbsthass geprägten Jugend kehrt der Erzähler heim, versöhnter mit sich, seinen Erinnerungen und seiner Familie. Und nicht immer ist Heimat ein Ort. Mosters Stil ist präzise, aber nicht schmucklos. Er verschränkt seine Handlung auf mehreren zeitlichen Ebenen miteinander. Da ist die trostlose Gegenwart, seine Jugend und frühe Erwachsenenzeit, die er immerhin vier Jahre auf der Couch eines Analytikers verbrachte; in der Hoffnung, seine Wutanfälle gegen sich selbst zu lindern. Und da ist die Vergangenheit des Großvaters. Dass der ein talentierter Pflasterer ist, darf auch symbolisch verstanden werden. Er ebnet den Weg für das, was kommt. Und wie ein filigranes Mosaik setzt sich auch die Erinnerung seines Enkels aus vielen Einzelteilen zusammen, deren Herkunft er selbst schon nicht mehr benennen kann. Neringa oder die andere Art der Heimkehr ist ein kunstvoll arrangierter, leiser Roman über Herkunft, Heimat und Erinnerung, der die Lektüre lohnt.

Nichts konnte revidiert werden, und genau darin sah sie eine Form der Schönheit. Ich spürte, dass dadurch jeder Anlass getilgt war, mit unrühmlichen Momenten der Vergangenheit zu hadern, denn alles, was ich mitbrachte, war aufgehoben in der schlichten Feststellung, ich sei schön.

"buchhandel.de/Stefan Moster: Neringa oder die andere Art der Heimkehr
mare,
288 Seiten
20,00 €

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