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Mary Miller – Süßer König Jesus

Eine christlich-fundamentalistische Familie fährt im Familienauto von Montgomery, Alabama über Texas nach Kalifornien, im Gepäck die Gewissheit der nahenden Wiederkehr Jesu Christi auf Erden. Mit Flyern versuchen sie, noch nicht errettete Menschen von der Entrückung ins Paradies zu überzeugen. Mary Miller schreibt mit ,Süßer König Jesus’ ein ungewöhnliches Buch vom Erwachsenwerden in einem Umfeld, dessen Schweigen, Dogmatismus und Janusköpfigkeit ein enges Korsett bildet. Ein rasanter und rotziger Coming-of-Age Roman!

Die Schwestern Jess, fünfzehn und Elisa, siebzehn, sehen die Errettungsmission deutlich abgeklärter als ihre Eltern. Sie tragen zwar ,König Jesus’-Shirts für zwanzig Dollar das Stück, aber eigentlich bedeutet das wenig. Während Jess als die Jüngere noch den Willen hat, zu glauben, obwohl sie in der Kirche eigentlich nichts von der Gnade und Güte Gottes spürt, hat die hübsche Elisa längst das verlassen, was man den Pfad der Tugend nennt. Sie ist schwanger; wie lange schon, weiß sie nicht. Außer ihrer jüngeren Schwester weiß niemand davon, ihre Eltern schon gar nicht. Ihr Vater hat gerade seinen Job verloren, auch wenn darüber nicht gesprochen wird. Die Mutter geht ihrerseits ganz in der Rolle der Ehefrau und Gläubigen auf, sie verwendet nicht mehr Zeit und Aufwand auf sich selbst als unbedingt nötig. In dieser kammerspielartigen Atmosphäre des über die Interstates rasenden Autos entfaltet sich das Bild einer Familie, die sich um deutlich mehr Baustellen zu sorgen hätte als die (wieder einmal) herannahende Apokalypse.

Meine Mutter hörte im Auto Joyce Meyer. “Sprechen Sie mir nach”, sagte Joyce, “Ich muss nicht mehr bluten. Ich muss nicht bluten.” Das gefiel mir – nicht nur, wie sie es betonte, auch der Gedanke, Leid sei etwas, das ich mir selbst antat und das ich nicht nötig hatte. All mein Leid könne jetzt, genau in diesem Augenblick aufhören.

Jess versucht ihrem Alter gemäß einen Platz in der Welt zu finden, die ihr auf der Reise zum ersten Mal unermesslich groß erscheint. Einmal erwägt sie, eine Postkarte zu schreiben, was sie nie zuvor getan hat. Wer nicht über das Nachbardorf hinauskommt, könne keine Postkarten schreiben. Weder ist Jess beliebt noch besonders selbstbewusst, was sie mit vielen Teenagern teilen dürfte. In ihrem Fall allerdings werden die Selbstzweifel von weit größeren Weltzweifeln konterkariert. Ihr Wille zu glauben nimmt in demselben Maße ab, wie sie ihn in seiner wahnwitzigen Ausprägung als Deckmantel ganz anderer Probleme erkennen muss, die die Familie trotz aller Zuneigung voneinander trennt. Die religiösen Phrasen klingen nicht hoffnungsvoll und stärkend, vielmehr werden sie zum steten Unterton eines Lebens, das durch sie mitnichten verständlicher wird. Mit der Familie geben viele andere Gläubige Haus und Hof auf, verkaufen all ihre Habe in der Hoffnung der baldigen Errettung. Müßig zu sagen, dass sie nicht kommt. Auch wenn der Himmel immer wieder Glück und Vergnügen verspricht.

Und was sollte das schon für ein Glück und Vergnügen sein, wenn es kein Gegenteil gab, an dem es festzumachen war. Was bedeutete Schönheit überhaupt noch, wenn alle schön waren? Wofür sollte ich mich dann noch anstrengen?

In klassischer Roadmovie-Manier werden die Überzeugungen der Familie auf die Probe gestellt, Perspektiven verändern sich, harte Einschnitte erzwingen ein Umdenken. In idealer Weise bewirkt die Reise nicht nur ein räumliches Fortkommen. Mindestens bei Jess, deren Gedanken, Gefühle und Zweifel zu jedem Zeitpunkt die Färbung der Geschichte bestimmen. Während so mancher angesichts des nahenden Untergangs genügsam wird, hat Mary Miller nicht grundlos eine Familie entworfen, die weder ihren spirituellen noch ihren materiellen Konsum hinterfragt. Neben den Fahrten durch mehr oder weniger belebte Kleinstädte nimmt das Essen – am liebsten bei bekannten Fast-Food-Ketten – und der Kauf von Souvenirs hier und dort einen großen Raum ein. Vielleicht, könnte man sagen, findet sich in diesem Roman die typische amerikanische Familie in leicht überspitzter Weise verwirklicht. Eine Familie, die mittels Konsum, strikter Lebensregeln und fundamendatilistischer Endzeitromantik die wahren Fallstricke ihres Zusammenlebens verschleiert. Es ist Jess und ihrer Schwester zu verdanken, dass diese Praxis mindestens hinterfragt wird. Mary Miller schreibt mitreißend, humorvoll, authentisch und pointiert über das Suchen und Finden eines Mädchens, das sich positionieren will. Ein Mädchen, das sich kennenlernen will abseits aller vorgezeichneten Wege und mit denselben Fragen hadert, wie viele von uns auch nach dem offiziellen “Erwachsenwerden”. ,Süßer König Jesus‘ ist die erfreuliche Entdeckung eines Romans, der nun, da er im Taschenbuch erschienen ist, hoffentlich noch mehr Leser findet. Jess ist eine starke und glaubwürdige Figur, die den Roman trägt und prägt!

Mary Miller: Süßer König Jesus, aus dem Amerikanischen von Alissa Walser, dtv Verlag, 256 Seiten, 9783423144001, 9,90 €

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